Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Wenn ANGST und POLARISIERUNG auf HOFFNUNG und LIEBE treffen
Integration als Zukunftskraft
von Ulrich Giesekus
Einer der „Brennstoffe“, der die Zukunftsängste vieler Menschen nährt, ist die Beobachtung, dass unsere Gesellschaft sich – „gefühlt“ oder tatsächlich – immer mehr polarisiert. Alles driftet auseinander. Wie soll das nur weitergehen?
Ob Genderdebatte, Rassismuskritik und Black Lives Matter, Klimawandel, Atomkraft, Migration und Immigration, Impfung oder Pandemie: immer häufiger begegnen uns quasireligiöse Tendenzen. Immer lauter werden die Stimmen, die einen absoluten Wahrheitsanspruch für sich in Anspruch nehmen.
„Wir sind das Volk“ – der Befreiungsruf der friedlichen Revolution 1989/90, die zum Ende der DDR geführt hat, ist der Schlachtruf der völkischen, rassistischen, islamfeindlichen, antidemokratischen, und rechtspopulistischen PEGIDA-Bewegung geworden. Man hört ihn auch bei Demonstrationen und Aktionen gegen Asylbewerber sowie Moscheen.
In Deutschland sitzt eine fremdenfeindliche Partei mit rechtsextremen Mitgliedern im Bundestag und anderen Parlamenten. Und es gibt Sympathisanten und Fürsprecher auch in christlichen Medien und Kreisen.
Querdenker, die mit Rechtsextremen und Reichsbürgern gemeinsame Sache machen, sind salonfähig geworden. Antisemitische Verschwörungswahnvorstellungen werden in allen Medien, vor allem den sozialen (oft eher asozialen), verbreitet.
Trump-Anhänger, die mit der Lüge von einer gestohlenen Wahl dazu aufgeputscht wurden, das Capitol zu stürmen. Mit Toten und Verletzten.
In unserem Nachbarland hat Marine le Pen, Vorsitzende der rechtsextremen Partei Rassemblement National, im Frühjahr 41,5 Prozent der Stimmen erhalten. Fremdenfeindich, europafeindich, und nicht zuletzt mit den alten anti-deutschen Ressentiments konnte sie einen großen Teil der Bevölkerung für sich gewinnen.
Auch auf der linken Seite gibt es immer mehr Extreme: Die Erweckten heißen nun woke. Jan Feddersen und Philipp Gessler bezeichnen die neue Bewegung der Antirassismus-Aktivist:innen als „Priesterkaste“ und vergleichen ihre Denkweise mit religiösen Fundamentalist:innen, denen es mit ihrer Identitätspolitik nur um Macht gehe.1 Die Schuld, mit der alle Weißen als rassistisch gelten müssten, sei so unentrinnbar, dass es an das Konzept der christlichen Erbsünde erinnere. Dank modernem Ablass gebe es Buße und Erlösung von solcher Schuld durch die Teilnahme an (teuren) Antirassismus-Workshops – obwohl Studien zeigten, dass die gar nichts brächten. So reumütig, tränenreich und öffentlich, wie sich früher evangelikale TV-Prediger zu ihrem Ehebruch bekannten, bekennt sich nun Kate Perry wegen eines angeblich afrikanischen Zopfes. Mit der Ausladung der Musikerin Ronja Maltzahn durch Fridays for Future wegen der „kulturellen Aneignung“, die sie mit ihren Dreadlocks betrieben habe, wurde die Debatte auch hier angefacht. Klar, es geht um mehr als eine Frisur, und die Gründe für und gegen sind vielschichtig. Ob diese Debatten allerdings dabei helfen, den alltäglichen und überall präsenten Rassismus wirksam zu bekämpfen? Ich bezweifle das.
Schwarze werden bei Job-Interviews öfter übersehen, aber selten bei Polizeikontrollen. Sie bekommen schlechter Mietwohnungen. „Wenn einem schwarzen katholischen Priester auf dem Dorf die Autoreifen zerstochen werden und er wegen einer Morddrohung sein Pfarramt wechseln muss, beteuert die rechte Presse, das habe nichts mit Rassismus zu tun, sondern mit seiner Amtsführung.“2 Dass Rassismus-sensible Sprache notwendig ist und People of Color über sich selbst reden sollen, wo, wann und vor allem wie sie das wollen – und nicht wir über sie – ist für mich selbstverständlich geworden. Dass unsere Gesellschaft noch weit entfernt ist von einer Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, ist keine Frage. Frauen werden z. B. deutlich schlechter bezahlt, schlechter medizinisch behandelt, öfter Opfer von Gewalt und Sexismus. Dass Christen die Gerechtigkeitsliebe Gottes auch in unseren Familien, Gemeinden, in Unternehmen und in der Gesellschaft leben und fördern sollten, wo immer möglich, halte ich für selbstverständlich. Dass Sprache die bestehenden Ungleichheiten erhalten und fördern kann, ist durch viele Studien nachgewiesen. Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen wie auch Schwulen, Lesben, Transgender usw. sollte nicht nur vor dem Gesetz gelten. Die Leute, die mit ihrem „Genderwahn“-Gejammer so tun, als wäre Geschlechtergerechtigkeit nicht auch ein göttliches Anliegen, bilden einen Pol der Polarisierung. Am anderen Pol finden wir das fundamentalistische Glaubensbekenntnis, dass jegliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen konstruiert wären – so als ob es keine Unterschiede in Hirnen und Hormonen gäbe. Natürlich gibt es non-binäre Menschen, aber muss man deshalb eine Bipolarität der Geschlechter prinzipiell ausschließen? Ist es sinnvoll, den Duden dafür zu kritisieren, weil er Brasilianerinnen, aber keine Deutschinnen kennt?
Viele dieser neuen Bewegungen treten mit einem religiösen Eifer auf. Die neuen Propheten sagen unsere Zukunft voraus. Was der Kirche zu Recht vorgeworfen wurde und wird – mit einem arrogant-allein-selig-machenden Anspruch aufzutreten –, ist wahrlich nicht mehr nur kirchlicher Alltag.
Polarisierung und Angst, also Enge und Engstirnigkeit sind Alltag geworden. In vielen Bereichen des Lebens erleben wir eine Radikalisierung und Ideologisierung, sodass es manchmal aussieht, als würde es nur die Extreme geben. Für jedes Spannungsfeld fallen mir Fernsehbilder ein. I can’t breathe. Zivilisten, Kinder in den Katakomben des Stahlwerks Mariupol. Wutverzerrte Gesichter bei Querdenkerdemos, vereinsamte Alte im Lockdown und ganzkörperverhüllte Pflegekräfte. Gletscher im Vergleich 1950 und 2022.
POLARISIERUNG IST NICHT NEU
Auch wenn es scheint, dass die Welt immer extremer wird, frage ich mich, wie viel von diesem Eindruck sich der Macht dieser Bilder verdankt. Medien zeigen ja nicht das Normale, den Durchschnitt, das ausgewogen Alltägliche, sondern die Extreme.
Und Polarisierung ist sicher nicht neu. Ich kann mich noch an 1968 erinnern: Die Reaktion der bürgerlichen Mitte auf die Pilzköpfe und Kommunarden wie Rudi Dutschke war nicht unbedingt freundlicher als die der „Spaziergänger“ auf öffentlichrechtliche Medien. Oft wechselt die Stimmung durch irgendein emotionales Ereignis. Es waren ja auch nur wenige Tage vom „Hosianna“ zum „Kreuziget ihn“.
Ich gehe davon aus, dass die meisten Phänomene und Einstellungen sich in Wirklichkeit in einer Gauß-Kurve verteilen. Wir sehen die lauten Extreme viel deutlicher als die große, aber leisere Gruppe in der Mitte. Ich bin sicher, die meisten konservativen Christen verurteilen Schwulenhass und Beschämung. Und die meisten progressiven oder liberalen Christen halten an grundlegenden ethischen Normen der Sexualität fest, weil auch das mit Menschenwürde und Schutz vor Ausbeutung hilft. Das Massensterben Flüchtender in den Fluten des Mittelmeeres muss man schrecklich finden, und man darf trotzdem Fragen stellen, inwieweit Rettungsaktionen diese halsbrecherischen Fahrten und solche Fluchten erst ermutigen. Auch viele Pro-Diversität aktive Menschen lehnen die Zurschaustellung und Kommerzialisierung von beziehungsloser Sexualität in manchen Szene-Events ab. Und viele konservative Christen fragen sich, warum Personen, die ihre gleichgeschlechtliche Beziehung in Verantwortung und Treue und mit dem Segen Gottes leben wollen, das nicht dürfen sollen. Was nicht heißt, dass sie z. B. das Kindeswohl bei Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare uneingeschränkt voraussetzen. Wobei andere wiederum fragen, wie diese Kinder, zumindest im Vergleich zu alleinerziehenden Eltern, schlechter dran sein sollten.
Die meisten Menschen lehnen Ehebruch ab und glauben an den Wert monogamer lebenslanger Ehen, sind aber nicht mehr bereit, gescheiterte Beziehungen als Charaktermakel und Schande zu bewerten.
Die Wirklichkeit ist eben nicht entweder-oder, sondern sowohl-als-auch.
Aber in der Mitte ist es ungemütlich. Wenn ich beide Seiten sehe – bekomme ich dann vielleicht Prügel von beiden Seiten? Mit klaren Feindbildern lebt es sich leichter.
VUCA FORDERT INTEGRATION
Dass die Welt kurzlebiger, unsicherer, komplexer und widersprüchlicher geworden ist, stellen viele Beobachter aus Wirtschaft, Soziologie oder Humanwissenschaften fest. Manchmal wird dafür das Akronym VUCA benutzt. Dieses Kunstwort geht zurück auf die Führungstheorien von Warren Bennis und Burt Nanus3 und steht als Abkürzung für die Begriffe Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity.
Zusammengefasst kann man sagen, dass wir die Welt immer weniger eindeutig steuern, begreifen und deuten können. Veränderungen und Komplexität machen es notwendig, so weit wie möglich Ideen, Menschen und Tendenzen zu verbinden. Wir müssen lernen, widersprüchliche Ideen zusammen zu sehen. Wir müssen lernen, Fremdes und Neues in unsere Gedankenwelt aufzunehmen. Wir müssen lernen, eigene Deutungen zu finden, und dabei die anderen Deutungen aus anderer Perspektive stehen zu lassen.
Diese Prozesse möchte ich mit dem Begriff Integration zusammenfassen. Unsere schnelllebige, vielschichtige und komplizierte Welt erfordert, dass wir neue und alte Erfahrungen miteinander verbinden, dass wir Vielfalt nicht nur aushalten, sondern als Reichtum erleben. Der Reichtum an Ideen, Normen, gesellschaftlichen und persönlichen Unterschieden ist wunderbar, aber nur zu handhaben, wenn wir es schaffen, dass auch alles „unter einen Hut“ bzw. in einen Kopf zu bekommen. Wir müssen Meister der Integration werden, sonst fliegt uns diese Welt um die Ohren.
Die Alternative zur Polarisierung ist die Integration. Ob in der Politik („nun wächst zusammen, was zusammengehört“) oder in der Gesellschaft (z. B. Integration von Migranten), in der Seelsorge (Integration von spirituellen und psychologischen Aspekten), oder in der Psychotherapie, wo unterschiedliche Behandlungsansätze integriert werden: Die Vielfalt des Denkens und Handelns ist eben nicht nur Überforderung, sondern muss als Reichtum wahrgenommen werden. Dabei wird oft auch Widersprüchliches oder in Spannungsfeldern Stehendes unter einen Hut gebracht – in der Regel mit einem Gewinn größerer Realitätsnähe und umfassenderer Wirklichkeitsbezüge, aber auch als Kompass zu besserer Wirksamkeit.
Psychotherapie und Seelsorge wollen und müssen Gegensätze verbinden, unterschiedliche subjektive Wirklichkeiten in den Dialog bringen, und innerhalb wie außerhalb des Individuums zu einer Befriedung gegnerischer Tendenzen einladen. Anstelle einer Entfremdung von sich selbst, von anderen, von der Gemeinschaft, von der Natur und der Welt wollen wir zu gelingenden Bezügen und Beziehungen beitragen. Auch die unsichtbare Wirklichkeit, die dem Glaubenden wirklich ist, darf und soll integriert werden.
KIRCHE KANN INTEGRATION!
Es gibt viele christliche Gemeinschaften, in denen konservative und progressive Christen eine herzliche Gemeinschaft bilden. Oder sehr gegensätzliche Meinungen zu gesellschaftlichen Fragen aushalten – Impfskeptiker sind nicht böse oder dumm, und Geimpfte „beugen ihre Knie nicht vor dem Götzen Corona“. Den Frieden sieht man oft nicht, denn auch in christlichen Kreisen werden die Pole und Extreme medial besser abgebildet als die gesunde Mitte. Eine Kirche, die sich mit Krach spaltet, bekommt sehr viel mehr Aufmerksamkeit als eine Gemeinschaft, die sich still versöhnt.
Christen integrieren Gegensätze. Die biblische Botschaft – und besonders die biblische Moral – lässt uns auch keine andere Wahl. Denn im Gegensatz zur appellativen und polarisierenden Moral der quasireligiösen Heilsbringer ist die biblische Moral polar, aber nicht polarisierend. Sie stellt Werte vor, die oft im Gegensatz zu anderen stehen, und gibt dem Menschen die Verantwortung zu ethischen Entscheidungen. Polarität von Rechtfertigung und Heiligung, Wahrheit und Liebe, Gegenwartsverantwortung und Zukunftshoffnung, Buße und Vergebung, Gerechtigkeit und Gnade, Selbstverleugnung und Selbstverwirklichung, simul justus et peccator …
Polare Spannungen durch Polarisierung aufzulösen heißt, auf biblische Ethik zu verzichten. Eine gnadenlose Gut-Böse-Moral kann es im christlichen Glauben nicht geben. Lieber David, bevor du und deine Leute verhungern, bediene dich an den sakralen Schaubroten im Tempel. Naaman, wenn du dich zusammen mit deinem König vor seinem Gott, Rimmon, niederbeugen musst, dann gehe in Frieden. (So der Prophet Elisa.) Und Jesus selbst sagt: Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat. Wenn der Ochse in Brunnen fällt, hol ihn raus – ein vergifteter Brunnen ist schlimmer als eine Übertretung des Sabbatgebots. Wenn sie dich nicht verurteilen, tue ich es auch nicht. – Geh und sündige nicht mehr. Kirche ist der Ernstfall: eine von Gott gebildete Gemeinschaft, wo Gott uns als Schwestern und Brüder einander zumutet. Mit allen Spannungen.
Eine der wichtigsten Integrationsentwicklungen in der Seelsorge ist die Akzeptanz der Psychotherapie als relevanter Beitrag zur Seelsorge. Als ich 1978 mein Psychologiestudium begann, gab es in Deutschland eine sehr überschaubare Zahl professioneller Psychotherapeuten, die bekennende Christen waren. Ich wurde gewarnt: Psychologie und Glaube, das ginge nicht zusammen, die Psychologie sei vom Teufel und wolle den Menschen zur Selbsterlösung bekehren, ich würde mich selbst umbringen oder den Glauben verlieren. Dass beides nicht passiert ist, wundert heute nur wenige.
Nein, es ist nicht an der Zeit, uns selbst auf die Schulter zu klopfen. Aber wenn wir der Polarisierung unserer Welt nichts entgegenzusetzen haben, verliert Kirche ihr Zeugnis.
Diese Notwendigkeit besteht auch für alle psychosozialen Tätigkeitsfelder. Dort prallen wie in wenig anderen Bereichen interkulturelle, interpersonale, intrapersonale, multidisziplinäre, traditionelle und innovative Kräfte aufeinander. Das erzeugt eine ganz besondere Energie. Wer mit der eigenen Person arbeitet und anderen in ihren sozialen Bezügen hilfreich begegnen will, muss diese Energie nutzen und darf nicht gegen sie ankämpfen. Natürlich ist es einfacher, in klaren und eindeutigen „Wahrheiten“ zu denken, Menschen und Gesellschaften in Kategorien einzuordnen, sie sich so verständlich zu machen und genau zu wissen, was richtig und was falsch ist. Die Sache hat nur einen Haken: Unsere Realität macht da nicht mit und bleibt VUCA, ob wir wollen oder nicht.
INTEGRATION AUF WEITEREN EBENEN
Integration beschränkt sich im Kontext von Psychotherapie, Seelsorge und Beratung nicht nur auf die Integration von Methoden einschließlich religiöser bzw. spiritueller Ressourcen. Diese angewandte Vielfalt unterschiedlicher Vorgehensweisen ist allerdings Voraussetzung für ein weitergehendes Integrationsverständnis. Das äußert sich ebenso » in der zwischenmenschlichen Haltung und interkulturellen Wertschätzung: Integrativ zu sein, fordert eine Qualität und Haltung, in der es um Öffnung und Wertschätzung geht – im Gegensatz zu einer Bewegung des Ausschließens, Separierens oder Abwertens. Eine echte wertschätzende Offenheit für die Begegnung mit fremden Lebensstilen, Denkweisen, gesellschaftlichen Milieus, Kulturen und Religionen setzt eine eigene integrierte Identität voraus.
» in der Persönlichen Identität: Die Integration innerer Persönlichkeitsanteile (im Gegensatz zur Abspaltung) ist ein wesentliches Ziel von Psychotherapie, Beratung und Seelsorge. Inneres Team, Ego-State-Therapie, Kohärenz (medizinisch-präventiv), Kongruenz (psychisch-persönlich) und Heil-Heiligung (spirituell) sind Beispiele für solche intrapsychisch integrativen Konzepte.
Psychotherapie, Seelsorge und Beratung haben es in wesentlichen Teilen geschafft, » religiösen Glauben und sozialwissenschaftliche Beratungsansätze zu integrieren, » westlich geprägte, sozialwissenschaftlich fundierte Beratungsansätze in multikulturellen Kontexten zu integrieren
» sowie interpersonelle und intrapersonelle Integration zu fördern.
LIEBE UND HOFFNUNG
Wenn Polarisierung und Angst auf Theologie und Humanwissenschaft treffen, passiert also Integration. Dafür gibt es in den vergangenen 50 Jahren reichlich Belege. Und wenn polarisierte Menschen sich ernsthaft miteinander auseinandersetzen und als Nachfolger Christi begegnen, werden zementierte Einstellungen hinterfragt. Es kommt Bewegung in verhärtete Fronten. Das zeigen viele Beispiele der Veränderung in christlichen Gemeinden, Gemeinschaften und Kirchen.
Der APS-Kongresses im Mai 2022 hatte sich als Thema nicht gewählt: „Wenn Angst und Polarisierung auf Wissenschaft und Kirche trifft“, vielmehr: „auf Liebe und Hoffnung trifft“. Dabei sind Liebe und Hoffnung ja nicht das Gegenteil von Polarisierung und Angst. Das Gegenteil von Polarisierung ist Integration bzw. Versöhnung, das Gegenteil von Angst ist Mut. Das Gegenteil von Liebe ist Hass, und das Gegenteil von Hoffnung ist Verzweiflung. Aber Polarisierung und Angst sind die Brutstätte von Hass, Liebe und Hoffnung sind die Quellen von Versöhnung und Mut. Die Hoffnung auf eine bessere Welt gehört zum Glauben, gerade dann, wenn es wenig plausibel scheint. Dietrich Bonhoeffer schrieb:
„Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“4
Menschen aller Glaubens- und Unglaubenszustände sind in der Lage, optimistisch für den Fortschritt zu arbeiten, zu forschen und zu denken. Sie können die Schöpfung untersuchen und die richtigen Schlüsse ziehen. Und sie können Fremdes wertschätzen und Fremde liebgewinnen, andere respektieren und empathisch Perspektiven übernehmen. Sie können Werte leben und einen inneren ethischen Kompass entwickeln. Aber Christen sind dazu berufen!
Prof. Dr. Ulrich Giesekus, geboren 1957, ist Professor für Psychologie und Counseling an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL). Er ist als Klinischer Psychologe in freier Praxis in Freudenstadt tätig.
Dieser Artikel ist eine stark gekürzte Fassung des Vortrags, den Prof. Giesekus am Eröffnungsabend des APS-Kongress‘ in Würzburg am 1.5.2022 gehalten hat. Das ungekürzte Rede-Manuskript findet sich unter www.akademieps.de/material-archiv.html.
1 Vgl. Jan Feddersen / Philipp Gessler: Eine woke Priesterkaste. Die Identitätspolitik kann ihren auffällig religiösen Charakter nicht verbergen, in: zeitzeichen, 2/2002, S. 18f.
2 Andreas Malessa: Am Anfang war die Floskel, bene, Altenberg 2022.
3 Vgl. Warren Bennis / Burt Nanus: The Strategies for Taking Charge, New York 1985. 4 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, S. 36.