Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Bekehrung und Entscheidung
Lutherisch – pietistisch – puritanisch – evangelikal
von Thorsten Dietz
Für die einen ist ganz klar, was eine Bekehrung ist: die Umkehr von einem Leben in Sünde und die Übergabe des eigenen Lebens an Jesus Christus. Für andere ist die Rede von Bekehrung das Merkmal religiöser Sondergruppen, die sich anmaßen, die Menschen in Bekehrte und Unbekehrte einzuteilen. Sicher ist: Was den Glauben angeht, muss jeder einzelne Mensch seine Entscheidung treffen. Oder etwa nicht?
Beginnen wir am Anfang der christlichen Gemeinde. Die Apostelgeschichte beschreibt an vielen Stellen den Übergang vom Unglauben zum Glauben als die Bekehrung des Menschen (Apg 2,38; 4,4; 16,30). Ein wichtiges Bild, das das Neue Testament für diese Lebenswende benutzt, ist die Wiedergeburt (Joh 3,3; Tit 3,5). Eine solche Lebenswende führt in frühchristlicher Zeit zur Taufe.
Für die Thessalonicher bedeutete die Hinwendung zu Jesus Christus einen tiefen Einschnitt in ihr Leben, sodass Paulus sagen konnte, dass „ihr euch bekehrt habt zu Gott, weg von den Abgöttern, zu dienen dem lebendigen und wahren Gott.“ (1Thess 1,9).
VON DER KONVERSION ZUR BUßE
Die Schilderungen der Apostelgeschichte werden zum Muster für viele Erfahrungen der frühen Christenheit. In der frühen Kirche sind solche Erfahrungen eines entschiedenen Bruchs mit dem Heidentum selbstverständlich. Die Bekehrung des Kirchenvaters Augustin (354-430) wird ein besonders eindrückliches Vorbild. Spätestens im 5. Jahrhundert nach Christus werden solche Geschichten immer seltener. Je länger, je mehr vollzieht sich die Mission nicht mehr als Bekehrung Einzelner. Zunehmend kommt es zu einer „Christianisierung von oben“, zu einer Umkehr ganzer Völker. Vom Spätmittelalter bis zur frühen Neuzeit spielt Bekehrung als persönliche Konversion zum Christentum in Europa kaum eine Rolle. Die Eingliederung in das Volk Gottes sieht man nun in der Taufe.
Jetzt wird etwas anderes zentral: das Thema der Buße. Die Erneuerung bzw. Vertiefung der Gottesbeziehung innerhalb des christlichen Glaubens. Letztlich knüpft das mittelalterliche Christentum wieder an alttestamentliche Erfahrungen an. Durch die Taufe gehören alle zum Volk Gottes, wie es im Alten Testament durch die Beschneidung verbürgt war. Aber die Zugehörigkeit zu Gott kann fraglich werden. Buße bedeutet, zu Gott umzukehren und sein Leben ganz auf Gott auszurichten. Je länger, je mehr wird die Buße aber auch ein kompliziertes Geschäft. Was ist wahre Buße? An welchen Merkmalen lässt sie sich erkennen? Wie tief muss die Reue sein? Mit welchen Gefühlen von Liebe und Angst ist sie verbunden? Nicht wenige Menschen des Spätmittelalters werden in solchen Fragen immer skrupulöser und ungewisser. Zu ihnen gehörte auch Martin Luther.Die Reformation brachte zunächst einmal mit der Konzentration des Glaubens eine gewaltige Vereinfachung des überlieferten Lehrbestandes mit sich. Entscheidend war für Martin Luther (1483-1546) nicht eine bestimmte Gestalt der Buße, sondern allein der persönliche Glaube als Vertrauen auf das Evangelium von Jesus Christus. Dadurch wird Buße im Sinne einer inneren Umkehr nicht überflüssig. Deutlich wird die in der ersten der 95 Thesen Luthers von 1517, wo er betont: Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte „Tut Buße“, meinte er, dass das ganze Leben des Menschen eine ständige Buße sein sollte. Buße ist nicht eine biografisch einmalige, sondern eine ständige Lebenswende. So etwas wie eine moderne Bekehrung kennt Luther nicht.
WIEDERKEHR DER BEKEHRUNG
In der Neuzeit kommt es zu einer Wiederentdeckung einer einmaligen Bekehrung. Erste Ansätze finden sich z. B. auch im deutschen Pietismus. In der pietistischen Erneuerungsbewegung legte man seit Philipp Jakob Spener (1635-1705) das Augenmerk auf die Erneuerung des christlichen Lebens. Gegenüber den vielen Lehrstreitigkeiten, wie sie von den orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts geführt wurden, stellte Spener den Gedanken der Wiedergeburt, der Lebenserneuerung ins Zentrum. Aber dabei ist immer noch das ganze Leben im Blick. Von einer Bekehrung als Lebenseinschnitt ist erst im Hallischen Pietismus die Rede, bei August Hermann Francke (1663-1727). Der junge Francke quälte sich mit Glaubenszweifeln. Im intensiven Ringen mit der Frage nach der Wahrheit des Glaubens wurde ihm neu bewusst, worum es im christlichen Glauben geht: Versöhnung Gottes mit verlorenen Sündern. Tiefe Sündenerkenntnis und Annahme der Barmherzigkeit Gottes befreiten Francke aus Glaubenszweifeln.
Unter dem Eindruck dieser Erfahrung Franckes entwickelte sich zunehmend die Tendenz, das Erleben einer einmaligen und grundlegenden Bekehrung für vorbildlich, ja verbindlich zu halten. Bestimmte Erfahrungen, wie intensives Leiden an eigener Sünde („Bußkampf“) und gefühlsstarke Durchbruchserfahrungen mit tiefem Empfinden der Heilsgewissheit, galten als Merkmal echten Christseins. Das moderne typisch evangelikale Bekehrungsmodell hat noch andere Wurzeln als diese pietistische Erfahrung. Seine Anfänge liegen vor allem im Puritanismus in England und später in den nordamerikanischen Kolonien von Neuengland. Nach den großen, religiös motivierten Migrationen der 1620er- und 1630er-Jahre in die nordamerikanischen Kolonien waren die Puritaner vor die Herausforderung gestellt, eigene Regelungen für eine kirchliche Ordnung zu entwickeln, die der Erwartung sichtbarer Heiligkeit Rechnung trug. Zur Gemeinde sollten nur wahrhafte Gläubige Zugang erhalten. Die Taufe als unmündiges Kind allein galt nicht mehr als ausreichend. Unter diesen Bedingungen entwickelten sie ausgefeilte Schilderungen, wie eine wahre Bekehrung zu Gott beschaffen sein müsse, um als echt gelten zu können. Der Bekehrungsvorgang wurde nun eine komplexe Angelegenheit.
Die Puritaner glaubten an Gottes Erwählung und nicht an den freien Willen des Menschen. Darum wollten sie die Zeichen der Gnade im Einzelnen genau verstehen und unterscheiden können von Imitationen des Glaubens. Dabei unterschied man einen Bereich der menschlichen Vorbereitung auf die Bekehrung und einen übernatürlichen Bereich dessen, was der Heilige Geist allein wirkt. Diese Unterscheidung von allgemeiner und besonderer Gnade sollte die Allwirksamkeit Gottes sichern. Zugleich sollte auch die menschliche Seite der Heilsaneignung anschaulich beschrieben werden. Dabei galten bestimmte Schritte und Stufenfolgen als notwendig wie: Sehnsucht nach Gnade, anfängliche Sündenerkenntnis, Bruch mit weltlichem Leben, tiefe Reue, Vertrauen auf Jesus Christus, Gewissheit der Rechtfertigung, Heiligung des Alltags, Beständigkeit in Krisen usw. Solche Schemata waren sehr beliebt: denn sie machten es endlich greifbar, was zu einer richtigen Bekehrung gehört. Bekehrungsgeschichten und Zeugnisse wurden vielfach gehört und gelesen. Man fand Orientierung in diesen eindeutigen Mustern.
BEKEHRUNG ALS ENTSCHEIDUNG
Zugleich konnten solche Bekehrungsmuster auch zur Belastung werden. Wie schon bei der richtigen Buße im Mittelalter wiederholten sich hier die Probleme: Wann ist Reue tief genug? Wie vergewissert man sich der Echtheit seines Glaubens? Erst im 19. Jahrhundert bildet sich ein Muster heraus, das noch heute viele Evangelikale prägt. Als Problem der klassischen Sicht wurde die Lehre empfunden, dass der Mensch keinen freien Willen habe, sondern ganz darauf angewiesen sei, dass Gottes Gnade ihm Glaube und Buße schenkt. In der Moderne kommt es gerade bei vielen evangelikalen Strömungen zu einer Veränderung der Gnadenlehre. Natürlich hält man daran fest, dass es keine Erlösung ohne das Wirken der Gnade gibt. Aber nun betonten einige wie vor allem Charles Finney (1792-1875), dass die Gnade allen angeboten sei und daher eine Sache der freien Entscheidung, sie für sich persönlich anzunehmen. Zu einer solchen Glaubensentscheidung könne und müsse man in evangelistischen Veranstaltungen aufrufen. Und um die eigene Entscheidung fest zu machen, sei es hilfreich, nach vorne zu kommen und sein Leben Jesus Christus zu übergeben, am besten vor Zeugen in einem ritualisierten Übergabegebet. So wurde Charles Finney der Begründer der modernen Evangelisation.
Bekehrung wurde nun zu etwas ganz Einfachem. Bekehrung ist eine Entscheidung für Jesus. Der Inhalt wurde so stark komprimiert, wie es eben geht: Glaubst du, dass du ein verlorener Sünder bist und dass Jesus am Kreuz zu deiner Erlösung gestorben ist? Dann entscheide dich jetzt, übergebe ihm dein Leben – und du bist bekehrt. Im 20. Jahrhundert sind die sog. Vier geistlichen Gesetze (Bill Bright, 1921-2003) ein Versuch maximaler Vereinfachung. Für eine richtige Bekehrung braucht es nur elementares Grundwissen, über Schöpfung und Fall, die Erlösung durch Jesus und die Bedeutung des Glaubens; und die persönliche Entscheidung, Jesus als Herrn anzunehmen. Dieses Muster wurde für viele Menschen prägend – im 19. und 20. Jahrhundert.
DIE MODERNE ALS ZEITALTER DER BEKEHRUNGEN
Es täte pietistisch-evangelikal geprägten Menschen gut, überhaupt erst einmal anzuerkennen, dass eine solche Vorstellung von Bekehrung keine ewige biblische Wahrheit darstellt, sondern eine bestimmte Auslegung biblischer Texte in einer modernen Zeit des Individualismus.
Ist dieses Schema biblisch? Angesichts selbst eines knappen geschichtlichen Überblicks merkt man schnell: Die Frage ist so zu einfach gestellt. Die biblischen Texte setzen sehr unterschiedliche Umstände voraus. Vor allem aber kennt die Bibel noch gar keine Gesellschaft, in der jeder Einzelne für sich selbst als religionsmündig gilt und für sich entscheiden kann und muss, was er glaubt. Die neuzeitliche Sicht der Bekehrung setzt die moderne Entwicklung zu Individualität, Autonomie und Mündigkeit voraus.
Die Zuspitzung der Bekehrung auf einen Entscheidungsakt kann man so sicher nicht auf die Bibel zurückführen; vor allem dann nicht, wenn man diese Entscheidung im Wesentlichen als freien Willensakt des Einzelnen ansehen will. Nach biblischem Verständnis ist zunächst die Erfahrung von Erkenntnis oder Erleuchtung für die Realität des auferstandenen Christus’ wesentlich: „Gott, der sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi“ (2Kor 4,6). In und mit diesem Erschließungsgeschehen vollzieht sich sodann eine Umwandlung des ganzen Herzens. Von Lydia heißt es: „Der tat der Herr das Herz auf“ (Apg 16,14). Nach der Pfingstpredigt heißt es über das Wirken des heiligen Geistes: „Als sie aber das hörten, ging’s ihnen durchs Herz“ (Apg 2,37). Es gibt keine menschliche Entscheidung zum Glauben. Aber wo Glaube entsteht als Vertrauen auf den Gott der Liebe, da kommt es auch zu Entscheidungen.
Ist die moderne Idee der Bekehrung also abwegig? Keineswegs. Das Thema wurde wieder aktuell in dem Maße, wie die Welt eine andere wurde. In der Neuzeit hörte der Glaube zunächst auf, Zwang bzw. eine Selbstverständlichkeit zu sein. Glaube wurde zu einer Entscheidung. Für viele zunächst eine Entscheidung zwischen den Konfessionen: evangelisch oder katholisch? Lutherisch, reformiert oder täuferisch? Und zunehmend wird es heute eine grundsätzliche Frage: Glaube ich noch, was ich als Kind angenommen habe? Nehme ich meinen Glauben mit, wenn ich von zu Hause ausziehe, aus beruflichen Gründen die Stadt wechseln muss und damit auch meine bisherige geistliche Beheimatung?
Glaube ist in der Moderne keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Option. Niemand kann sich dieser Situation entziehen. Das ist eine Folge der Säkularisierung. Wir leben nicht mehr wie selbstverständlich als Teil einer Familie, wo klar ist, dass wir glauben, weil die Eltern das so entschieden haben. Natürlich, es gibt heute noch Menschen, die Glaube von frühester Kindheit an kennenlernen und in ihn hineinwachsen. Vor allem in den Großkirchen ist das verbreitet. Leider fehlt dort häufig die Fantasie dafür, wie Menschen, die nicht von Kindesbeinen an mit dem christlichen Glauben vertraut gemacht wurden, Christin bzw. Christ werden können. Bekehrung ist heute keine Frage eine bestimmten Frömmigkeitsgruppe, sondern eher eine Frage der religiösen Sozialisation. Und wenn klassische Volks- und Landeskirchen nicht stärker lernen, Außenstehenden Wege anschaulich vor Augen zu malen, wie sie zum Glauben kommen können, werden sie immer weiter schrumpfen.
WEG UND ENTSCHEIDUNG
Sind also die evangelikalen und pietistischen Gruppen in Wahrheit nicht rückständig, sondern die moderne und zukun sfähige Form der Christenheit? Zumindest ist es ihre Stärke, bewusst zum Glauben einzuladen und von Bekehrung als persönlicher Hinwendung zu Gott reden zu können, und das nicht nur abstrakt, sondern mittels vieler Beispielgeschichten und institutionalisierten Gestalten der Bekehrung im Zusammenhang von Evangelisationen und Glaubenskursen.
Zugleich sollten sie aus den Fehlern der Geschichte lernen. Der Grundfehler vieler Ablaufmodelle besteht darin, dass eine bestimmte geistliche Erfahrung zur Norm gemacht wird. Was Segen war, kann so zum Fluch werden. Denn was einigen Klarheit schenkt, führt bei anderen zu Verunsicherungen und massivem Druck, von innen und außen. Vorbilder helfen auf dem Weg zum Glauben. Aber sie können auch verunsichern.
Befreiend ist es, was Dietrich Bonhoeffer zu dieser Frage ausführt. Zur Seligpreisung derer, die im Gesetz des Herrn wandeln (Ps 119,1), schreibt Bonhoe er: „Wer so spricht, setzt den geschehenen Anfang voraus. Er gibt zu verstehen, dass das Leben mit Gott nicht nur und nicht wesentlich aus immer neuen Anfängen besteht.“ Auch Bonhoe er spricht von Bekehrung, aber er ordnet sie in die große Geschichte Gottes ein: „Einen Tag um den anderen auf den neuen Anfang zu warten, ihn unzählige Male gefunden zu haben meinen, um ihn am Abend wieder verloren zu geben, das ist die vollkommene Zerstörung des Glaubens an den Gott, der den Anfang einmal gesetzt hat in seinem vergebenden und erneuernden Wort, in Jesus Christus, d. h. in meiner Taufe, in meiner Wiedergeburt, in meiner Bekehrung.“
Ja, Bekehrung ist eine reale Erfahrung. Am Ende blickt der christliche Glaube nicht beständig auf dieses Erleben, sondern auf den, der sie geschenkt hat: „Gott hat mich ein für allemal zu sich bekehrt, nicht ich habe mich ein für allemal zu Gott bekehrt. Gott hat den Anfang gesetzt, das ist die freudige Gewissheit des Glaubens. Darum soll ich nicht neben den einen Anfang Gottes noch zahllose eigene Anfänge zu setzen versuchen. Gerade davon bin ich befreit, der Anfang liegt ein für allemal hinter mir, Gottes Anfang nämlich.“
Prof. Dr. Thorsten Dietz, geboren 1971, ist theologischer Direktor des Marburger Instituts für Religion und Psychotherapie und lehrt Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg.