Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2025_2) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Das neue Skript: Bewusstseinsveränderung in der Traumabehandlung
Im Rahmen der Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) bekommen Patienten in einem Geschehen aus ihrer Vergangenheit innerlich eine neue Rolle zugewiesen. Sie sind dem grausamen Ablaufen des traumatischen Erlebnisses nicht mehr hilflos ausgeliefert.
Von Rolf Senst
Meine Patientin betritt die innere Bühne. Was sie erlebt hat, liegt schon viele Jahre zurück, aber das Geschehen hat derart tiefgreifende Irritationen ausgelöst, dass ihr Grundvertrauen ins Wanken geraten ist. Ihr Bild von sich und der Welt ist nachhaltig erschüttert.
Sie hat als Kind sexualisierte Gewalt erlebt. Sie ist nun zehn Jahre alt und spricht über die Tat. Sie tut das bewusst in der Gegenwartsform, weil die verinnerlichten Szenen aktuell präsent sein müssen, um an ihrer Veränderung arbeiten zu können: „Ich liege im Bett und ich höre, wie sich schwere Schritte der Tür nähern. Mein Herz fängt schon an zu klopfen, denn ich ahne, was jetzt kommen wird.“
Eine innere Bühne haben wir alle. Wir haben einen Ort, an dem die Ereignisse im äußeren Ablauf innerlich verarbeitet werden. Diese Verarbeitung läuft unmittelbar im Moment, oft aber auch zusätzlich später, zum Beispiel auf dem Heimweg im Auto. Einzelne Szenen laufen noch mal im Inneren ab und man denkt über die eigenen Aktionen und die Reaktionen des Gegenübers nach.
Und manchmal gibt es Dinge, die uns auch noch Jahre später beschäftigen. Das könnte ein Autounfall, eine Naturkatastrophe oder auch eine Gewalterfahrung gewesen sein. Bei uns in der Klinik geht es häufig um sexualisierte Gewalt. Klassischerweise leiden die Patienten an einer posttraumatischen Belastungsstörung: Bilder von dem Geschehen kommen immer wieder und ungefragt im Lauf des Tages als Flashbacks hoch oder auch in der Nacht in Form von Albträumen. All die damals erlebten Emotionen sind dann plötzlich wieder da. Die Alltagsfähigkeit ist erheblich beeinträchtigt. Situationen, die die Erinnerung auslösen könnten, also sogenannte Trigger, werden gemieden, lassen sich aber oft nicht völlig vermeiden. Der Aktionsradius ist dementsprechend eingeschränkt. Der psychovegetative Erregungspegel ist chronisch erhöht. Die Patienten sind meist sehr reizbar oder schreckhaft, leicht störbar im Schlaf, kommen teilweise schnell ins Schwitzen, der Blutdruck ist erhöht. Die Geschichte hat sich viele Male eingebrannt.
Auf der inneren Bühne
Die IRRT (Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy) hat mich sofort fasziniert, als ich die ersten Videoaufzeichnungen gesehen habe. Ich konnte einem Kollegen über die Schulter schauen und direkt miterleben, wie sich die Interaktion zwischen Therapeut und Patienten unmittelbar vollzieht, wie der Patient mit geschlossenen Augen auf die innere Bühne geht und live über das Geschehen berichtet und wie sich etwas beim Patienten verändert.
Wie in verhaltenstherapeutischen Verfahren üblich wird auch in der IRRT mit einer Exposition gearbeitet. Die Patienten werden mit dem Geschehen, das ihnen so große Angst macht, konfrontiert. Eine klassische Exposition wird in vivo durchgeführt. Dann üben die Patienten in der realen Situation, betreten also beispielsweise in Begleitung einen Fahrstuhl, wenn sie unter einer Fahrstuhl-Phobie leiden. In der IRRT wird die Exposition in sensu durchgeführt, also rein in der Vorstellung. Die Patienten gehen in die Szene hinein. Sie beschreiben mit geschlossenen Augen, was sich ereignet, so, als ob es jetzt gerade geschehen würde, wie sie es auch bei Flashbacks schmerzlich erleben.
Ich begleite das als Therapeut und lasse mir erzählen, was passiert, während dieser Film bei den Patienten abläuft. Ich frage nach: „Wie ist jetzt gerade der Anspannungsgrad von 0 bis 10?“ Inhaltlich beeinflusse ich diesen inneren Film nicht, aber durch meine Präsenz, durch meine Nachfragen bin ich gleichzeitig ein Repräsentant der aktuellen Gegenwart, denn den Patienten ist bewusst, dass ihnen ein Mensch gegenübersitzt, der sich im Hier und Jetzt befindet und nicht in dem Film. Das macht schon einen Teil der Wirksamkeit des Verfahrens aus.
Eine dritte Person betritt die Bühne
Typischerweise ist der Mensch, der mir gegenübersitzt, das hilflose Opfer, das sich ohnmächtig und ausgeliefert fühlt. Häufig sind diese damals entstandenen Ohnmachtsgefühle nicht nur auf die damalige Situation begrenzt. Obwohl das Geschehen schon einige Zeit zurückliegt, ist es nicht vorbei, sondern immer noch wirksam. Für die Patienten geht es jetzt um die Frage: Wie kann ich vermeiden, dass diese Erfahrung aus der Vergangenheit störend in das Hier und Jetzt hineinkommt? Wie kann ich die Sache bändigen?
Meine Patientin durchläuft also die ganze Szene aus ihrer Kindheit, jemand kommt in ihr Zimmer, das Verbrechen spielt sich ab und irgendwann verschwindet der Mann wieder. Dann sage ich: „Halten Sie bitte die Augen geschlossen. Gehen Sie noch mal zurück an den Anfang der Szene. Wir werden die Situation jetzt noch ein zweites Mal durchlaufen, aber an einem bestimmten Punkt werden wir diesen Film auf der inneren Bühne verändern.“
Die Patientin beschreibt erneut die gleiche Begebenheit. Meist ist der zweite Durchlauf nicht identisch, es kommen andere Details dazu, aber das ist nicht maßgeblich. Ich habe mir beim ersten Durchlauf ein Bild davon gemacht, wo es für die Patientin am schmerzhaftesten für sie war. Beim zweiten Mal unterbreche ich sie genau an diesem Punkt.
Nun kommt der entscheidende Wechsel, denn ich stelle die Frage: „Können Sie sich vorstellen, wie Sie als die heutige Susanne, also als der Mensch, der mir heute gegenübersitzt, zusätzlich diese Szene betreten?“ Manche können nicht gleich nachvollziehen, was gemeint ist, aber die meisten haben die Idee schnell erfasst. Jetzt sind also nicht mehr nur zwei Akteure auf der inneren Bühne, nämlich Opfer und Täter, nun kommt eine dritte Person hinzu – das Heutige Ich.
In diesem Moment ist mein Ansprechpartner ausschließlich das Heutige Ich, das die Szene betreten hat. Und dann frage ich: „Was sehen Sie?“ Die Antwort lautet: „Ich sehe einen erwachsenen Mann, der sich an dem Kind zu schaffen macht.“
Rescripting
An dieser Stelle beginnt die zweite Phase, das Rescripting, denn ich frage: „Was möchten Sie als heutige Erwachsene jetzt zu diesem Täter sagen?“ Bis zu diesem Punkt waren wir beim Reprocessing, wir haben einfach noch mal durchlaufen, was damals passiert ist. Jetzt wird etwas Neues geschrieben. Jetzt befindet sie sich im inneren Erleben auf der sogenannten fiktiven Symbol-ebene.
Die Patientin sagt nun zum Täter: „Lass das Kind in Ruhe!“ Ich wiederhole das: „Lass das Kind in Ruhe!“
Die Patientin sieht als Heutiges Ich, dass der Täter erstaunt aufschaut. „Was wollen Sie weiter zu ihm sagen?“, frage ich. „Geh sofort weg von dem Kind!“, lautet die Antwort. Ich wiederhole: „Geh sofort weg von dem Kind!“ Der Täter ist irritiert und behauptet, dass er doch gar nichts macht.
„Wie reagieren Sie darauf?“, frage ich.
„Du machst was absolut Verbotenes und Grausames! Du gehst jetzt sofort runter!“, sagt sie zum Täter.
Ich bleibe mit ihr an dieser Konfrontation, bis ganz deutlich wird, wer hier das Sagen hat, nämlich das Heutige Ich. Es ist ganz wichtig, dass ich das gut begleite und keine Vorgaben mache, was die Patientin jetzt sagen soll. Aufgrund der ethischen Überlegenheit gegenüber dem Täter und den größeren Kompetenzen im Vergleich zum damaligen Opfer hat das Heutige Ich eine sehr begründete Zuversicht, dass es eingreifen und den Täter vertreiben kann. Der Täter wird entmachtet oder zumindest neutralisiert und räumt mehr oder minder widerstrebend das Feld.
Dann kommt die dritte Phase, in der es darum geht, dass sich das Heutige Ich um das traumatisierte Ich von damals kümmert. „Was möchten Sie jetzt dem Kind sagen?“, lautet die Frage. Jetzt kommen in der Regel fürsorgliche, tröstende Impulse vom Heutigen Ich dem Kind gegenüber. Vor allem, wenn es um eine längere Missbrauchsgeschichte geht, kann es etwas dauern, bis das Kind Vertrauen fasst und positiv reagiert. Meistens gelingt es jedoch, das Kind zu trösten. Das Heutige Ich ist der Retter.
Bei diesem Verfahren gelingt es auf diese Weise erstaunlich gut, Schemata, also tief eingebrannte Erlebens-, Bewertungs- und Verhaltensmuster zu überarbeiten. Die Opferbilder werden durch Bewältigungsbilder ersetzt. Es entsteht ein neues Bewusstsein für die eigenen Möglichkeiten: Ich habe die Kompetenz. Ich weiß, wer ich bin. Ich weiß, wo meine Grenzen sind. Ich kann sie setzen und bin nicht hilflos ausgeliefert.
Der Artikel beruht auf einem Interview. Protokoll: Christof Klenk
Rolf Senst ist Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit Zusatzqualifikation spezielle PsychoTraumatherapie (DEeGPT). Bis 2025 war er Chefarzt der de’iIgnis-Fachklinik Egenhausen.
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