Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2025_1) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Der Anfang einer Beziehung und die Folgen – Einblicke aus psychodynamischer und bindungstheoretischer Sicht
Warum wählen zwei Menschen einander aus und was haben ihre Motive mit der gegenwärtigen Krise zu tun? Für die Paartherapie kann es fruchtbar sein, zurück zum Anfang der Beziehung zu gehen.
Von Ira Schneider
Der Anfang einer Beziehung lässt in vielen Paaren etwas Kraftvolles lebendig werden. Bei den meisten Paaren ist es eine wohlige warme Wucht voller verheißungsvoller Zukunftsfantasien, die geweckt werden. Natürlich erleben nicht alle Paaren den Beginn als hinreißend, fluffig und verschmelzend. Es gibt auch Paare, die den Anfang als kräftezehrend, verunsichernd und ambivalent erfahren. Doch in jedem Fall ist es so, dass sich das Paar findet und formt. Es bildet sich ein Band zwischen zwei Bindungswesen. Paare berühren etwas tief ineinander und eine Dyade entsteht. Eine Bindungsbeziehung wächst heran. In der Regel wird der Partner / die Partnerin zur primären Bindungsperson: „The spouse becomes the primary attachment figure for the majority of adults and as such their main source of security and comfort.”¹
Doch was passiert da eigentlich am Anfang? Wie können wir den Schöpfungsmythos des Paar-Seins verstehen? Ist es wirklich so geheimnisvoll, wie es uns meist suggeriert wird? Drei Fragen für die paartherapeutische Arbeit zum Anfang einer Beziehung möchte ich hier nachgehen: Was hat der Beginn und die Auswahl des Liebesmenschen mit der eigenen Prägung und Geschichte zu tun? Wie hängt der Beginn einer Paarbeziehung mit möglichen Spannungen im späteren Verlauf der Beziehung zusammen? Warum gibt es Tendenzen darin, dass sich ganz bestimmte Personen finden? Einige Einblicke aus psychodynamischer und bindungstheoretischer Sicht.
Die Auswahl des Liebesmenschen
Um dem Schöpfungsmythos auf die Spur zu kommen, können psychodynamisch betrachtet zwei unbewusste Auswahlkriterien an Land gezogen werden. Es gibt Personen, die eher dazu neigen, sich ein Gegenüber zu suchen, das an die frühkindlichen Fürsorge- und Beziehungspersonen erinnert oder eins, das hilft, sich von diesen abzugrenzen. Möglicherweise stehen auch die eigenen Selbstwertthemen im Mittelpunkt der Wahl.2 Das Bindungsbedürfnis, für einen anderen Menschen bedeutsam zu sein, wird versorgt. Vielleicht geht es auch darum, jemanden zu finden, unter dessen erfolgreichen Strahlen man sich sonnen kann³ oder es wird nach jemandem Ausschau gehalten, der einen bewundert. Doch zurück zu den frühen Übertragungen:
Die Liebesperson als Fortsetzung positiver Beziehungserfahrungen
Lorian und Amira haben einander gewählt – aus unterschiedlichen Gründen. Amira kommt aus einem sehr liebevollen Zuhause voller Geborgenheit, Schutz und Versorgung. Sie hat vor allem von ihrer Mutter erfahren, dass ihre Bedürfnisse wichtig sind und dass ihre Gefühle gehört, ernst genommen und begleitet werden. In Lorian sieht sie jemanden, in dem sie genau das wiederfinden und vor allem weiterhin versorgt wissen kann. Er ist sanft, fürsorglich und aufmerksam – sie fühlt sich hingezogen und spürt eine starke Übertragung ihrer Versorgungswünsche. Die guten Bindungserfahrungen werden in dieser Beziehung wiederholt werden.⁴ Amira ist ebenfalls fürsorglich, gleichzeitig ist sie gut im Planen und Strukturieren. Lorian, der die Dinge gerne auf sich zukommen lässt, empfindet es als sehr entlastend, dass Amira immer den Überblick behält.
Die Liebesperson als Abgrenzung von dysfunktionalen Strukturen
Karim dagegen möchte sich von dysfunktionalem und symbiotischem Verhalten der Mutter durch seine Paarbeziehung abgrenzen.⁵ Als Karim auf die Welt kam, hat sie sich fest an ihn geklammert. Als er ein Teenager war, fiel ihr das Loslösen und Loslassen schwer. Als er seine erste Freundin hatte, machte sie ihm wieder deutlich, dass er sich zwischen seiner Mutter und seiner Freundin entscheiden musste. Er verwarf seinen Plan, eine Zeit im Ausland zu verbringen, weil seine Mutter über einen Monat weinte, sodass der Druck und sein schlechtes Gewissen untragbar wurden. Als er dann Anfang dreißig seine Frau heiratete, war das eine, die ihm viel Autonomie bot. Eine, die es ihm ermöglichte, dass er beruflich pendelte, viele Dienstreisen ins Ausland machen konnte und die gut für sich selbst sorgte.
Die Liebesperson als Versorger emotionaler Leerstellen
Vielleicht geht es auch darum, dass die Partnerperson einen erlebten Mangel ausfüllt.⁶ Janinas Vater hatte ein Suchtproblem. Er hat Halt und Trost in Alkohol gesucht. Infolgedessen war er oft nicht emotional verfügbar und alles andere als ein sicherer Ort. Wenn er mit seinem Handy beschäftigt war, dann drohte kein Unheil. Ansonsten waren seine Reaktionen oft nicht vorhersehbar. Janina hat sich Milan als Partner gesucht, der emotional präsent ist und eine feinfühlige Sprache hat. Als Sozialpädagoge arbeitet er in der Suchtberatung. Er hilft Menschen und Angehörigen aus Suchtverhalten heraus. Ein unbewusster kindlicher Teil in Janina fühlt sich, als ob er ihr 13-jähriges Ich aus ihrer Not rettet.
Die frühen Beziehungspersonen beeinflussen die Partnerwahl, ob Paare es wollen und glauben oder nicht. Entweder suchen sie jemanden, der diesen gefallen würde oder eine Person, die diese ablehnen. Sie suchen sich entweder Vertrautes oder nach einer inneren Lösung von dem, was konflikthaft erschien, indem nach anderen Anteilen gesucht wird.
Der ursprüngliche Beginn und die Spannung
Im Fall von Lorian und Amira kann es sein, dass Amira zu Beginn Lorians sanfte Anteile überstark markiert hat. Dass er sich schlecht strukturieren kann und verantwortungslos mit seinem Studium umgeht, konnte sie zu Beginn nicht sehen. Damals war er schon fünf Jahre in Vollzeit dabei seinen Bachelor zu machen. Dementsprechend hat sie auch nicht wahrgenommen, dass dahinter gewisse Themen bei Lorian stecken. Schließlich hätte Lorian Sonne und Mond in Bewegung gebracht, damit Amira sich versorgt weiß. Doch Lorian verschiebt permanent Klausuren, verpasst es, sich bei Dozierenden Unterschriften für erbrachte Studienleistungen zu holen, und nach vier Jahren Beziehung hat er immer noch keinen Abschluss. Amira ist frustriert. Sie möchte endlich, dass beide ein zuverlässiges Einkommen haben. Lorian trägt in sich Aspekte, die Amira an ihren Vater erinnern. Sie hat zu Hause zwar viel Umsorgung erfahren, aber ihr Vater war oft schlecht darin, Termine zu koordinieren, sodass er wichtige Momente wie Amiras Schulaufführung oder ihren Abschlussball verpasst hat. Diese unzuverlässigen Teile ihres Vaters stoßen auf Ablehnung in Amira und sie entdeckt sie in Lorian, was nun vermehrt zu Spannungen, Unzufriedenheiten und Konflikten führt.
Auch bei Karim kommt es zu Spannungen, als er und seine Frau Kinder bekommen. Sie erwartet mehr Verbindlichkeit und Anwesenheit zu Hause. Die autonomen Wünsche zurückzustellen, um in der Kleinkindphase präsenter zu sein, ist für ihn unvorstellbar. Seine Frau fühlt sich zunehmend einsam. Während sie sich vorher verbunden fühlte, weil man sich über die jeweils eigenen Projekte austauschen konnte, braucht sie ihn nun konkret im Alltag.
Janinas Bedürftigkeit und Wunsch nach Versorgung und emotionaler Präsenz ist hoch, nach dem, was sie in ihrem Elternhaus erlebt hat. So hoch, dass sich schnell Frustration bei ihr breit macht, wenn Milan mal nicht für sie da sein kann, wenn sie ihn braucht. Dann entsteht manchmal ein Ungleichgewicht zwischen dem, was er ihr realistisch geben kann und dem, was sie sich wünscht. So können zu Beginn von Paarbeziehungen unbewusste Paarverträge⁷ entstehen, die bestimmte Wünsche und Erwartungen an den anderen stellen.
Kann das gut gehen?
Die beschriebenen Auswahlkriterien sind unbewusste Mechanismen, manchmal ein wenig vorbewusst. Diese haben viel mit Sehnsüchten und inneren Konflikten zu tun, von denen Paare sich Entlastung wünschen. Wenn dann Spannungen in der Partnerschaft aufkommen, ist es hilfreich, wenn beide bereit sind, sich mit sich und ihrem eigenen Anteil zu beschäftigen. Im besten Fall wird ein differenziertes Unterscheiden zwischen dem Hier und Jetzt und dem Dort und Damals möglich. Wo erwarte ich eine Entschädigung für alten Schmerz, den mein Gegenüber nicht wirklich leisten kann? Gibt es noch eine Not aus einer anderen Zeit, die eine Zuwendung aus Trost oder Trauer braucht? Kann eine gegenseitige Akzeptanz stattfinden und gleichzeitig eine Bereitschaft entstehen, sich für tiefe Bindungsbedürfnisse des Gegenübers emotional zu engagieren?
Warum sich eine bestimmte Konstellation immer wieder findet
Nun zu dem bindungstheoretischen Blick, der natürlich das Unbewusste der Psychodynamiken immer mit einspielt. Schließlich kommt die Bindungstheorie aus der Analyse. In der bindungsbasierten Paartherapie wird oft jedoch ganz konkret auf das Bindungsmuster geschaut, in dem Paare miteinander verwoben sind. Nicht selten kommt es zu folgendem Zusammenspiel: Eine Person, die ängstlich gebunden ist, findet jemanden, der in der emotionsfokussierten Paartherapie als vermeidend gebunden bezeichnet wird. Ängstlich Gebundene kämpfen immer wieder mit Verlustängsten. Sie brauchen viel Sicherheit in Beziehungen und oft die Bestätigung, geliebt zu sein. Sie haben wahrscheinlich schmerzliches inkonsistentes elterliches Verhalten erfahren, mal haben sie emotionale Verfügbarkeit erlebt und mal nicht. Bei vermeidend gebundenen Personen ist es anders. Sie empfinden das Zeigen von Emotionen oft als bedrohlich. Sie haben keine oder wenig emotionale Feinfühligkeit und Responsivität seitens ihrer Fürsorgepersonen als Kind erfahren.⁸ Natürlich finden sich auch andere Interaktionszyklen, wie ängstlich-ängstlich oder vermeidend-vermeidend.
Ängstlich Gebundenen steht durch die Nähe, die sie herstellen können, oft ein großes Repertoire an Emotionen zur Verfügung. Sie zeigen ihre Gefühle. Das fasziniert vermeidend gebundene Personen, da sie sich dadurch ihren eigenen Gefühlen näher fühlen. Sie finden das ängstlich gebundene Gegenüber vitalisierend und inspirierend. Für ängstlich Gebundene ist die emotionale Stabilität der vermeidend Gebundenen attraktiv. Sie fühlen sich dadurch sicher und gehalten. Viele sprechen davon, dass ihr Gegenüber für sie ein Ruhepol war.⁹ Doch daraus kann ein Teufelskreislauf entstehen. Die Ängstlichen werden immer fordernder, die Vermeidenden ziehen sich immer mehr zurück. Gegenseitig triggert das Paar tiefe unversorgte Bindungsbedürfnisse und ist in einen Tanz verstrickt.10
Wütende Frauen, ängstliche Männer
Auch geschlechterspezifische Unterschiede sind in der Verteilung von Bindungsstilen bekannt. Forschungsergebnisse zeigen, dass es Unterschiede bei Männern und Frauen im Ausdruck ihrer Emotionen gibt. Unabhängig vom Geschlecht sind allerdings die Arten von Emotionen. Alle Menschen erleben Ängste, Selbstwertschmerz oder Trauer. Der Unterschied liegt in der Ausdrucksweise und Verarbeitung von primären Kernemotionen.
Viele Männer sind so sozialisiert worden, dass sie beispielsweise sehr früh erfahren, dass sie sich für ihre Verwundbarkeit, Ängste und Emotionen schämen müssen.11 Viele spalten diese Gefühle dann früh von sich ab, was eher zu vermeidenden Bindungsmustern führt. Viele Männer wirken oft rationaler und sachlicher. Es ist aber im Grunde ein Schutzmechanismus, um mit vulnerableren Gefühlen umzugehen. Sie haben gute Gründe dafür. Achtung, das trifft natürlich nicht auf alle Männer zu!
Natürlich passiert das auch oft bei Frauen. Nicht selten jedoch findet sich die Konstellation zwischen ängstlich und vermeidend gebunden. Meist besetzen beide Seiten einen Pol und es geht in ein sich gegenseitig verstärkendes Wechselspiel über. Frauen werden im Laufe ihrer Sozialisation oft eher beschämt für Ausdrucksweisen wie Wut oder Selbstvertrauen. Sie werden besonders dafür gelobt, wenn sie sich um Bedürfnisse anderer sorgen und andere im Blick haben. Sie sollen sich ständig um andere und um Beziehungen kümmern.12 So kann es sein, dass sie früh verinnerlichen, besonders stark in Beziehung zu treten und um den Erhalt von Beziehungen besorgt zu sein. Das muss natürlich nicht gleich zu der Tendenz eines ängstlichen Bindungsstils führen. Aber ich denke, wenn wir mit Paaren arbeiten, ist es lohnenswert auch strukturelle Aspekte im Hinterkopf zu behalten, weil sie nicht spurlos an der Paarbindung vorbeischlittern.
Herkunftsfamilie, Sozialisation und unbewusste Zusammenspiele – zwischen alldem gilt, dass es notwendig ist, dass beide Teile eines Paars lernen, in dieser wichtigen Bindungsbeziehung Ängste oder schwierigere Gefühle zuzulassen und zeigen zu können. Das kann jeder Mensch lernen! Was Paare dafür von ihren Therapeuten brauchen: Maximale Sicherheit, minimale Beschämung und eine feinfühlige validierende und haltende Resonanz.
Fassen wir zusammen: Frühe Erfahrungen können günstige oder weniger günstige Leitsterne werden bei der Wahl des Partners / der Partnerin. Bindungsmuster sind nicht nur familiär, sondern auch von gesellschaftlicher Sozialisation mitgeprägt. Die gute Nachricht ist hier, dass ein Wandel beobachtet wird, der weggeht von erzieherischen Klischees und viel feinfühliger Kinder unabhängig von Geschlecht begleitet.13 Wichtig ist, dass die Paartherapie Raum für biografische Kontinuitäten ermöglicht. Gemeinsam im Prozess der Paartherapie den Schöpfungsmythos zu entlarven und zu verstehen, welche unbewussten Wünschen beim Beginn mitschwangen und was fasziniert hat, kann hilfreich sein, um das zu verstehen, was im Hier und Jetzt passiert.
Ira Schneider arbeitet in einer psychologischen Beratungsinstitution für Paare, Familien und Einzelpersonen (Homepage). Das anonymisierte Paar aus diesem Artikel hat sie im Rahmen ihrer Selbstständigkeit betreut. Seit neuestem ist sie auch im Podcast „Voll Liebe“ zu hören.
Ihr Ratgeber für Paare „Jeden Tag ein neues Ja“ und ihr neues Buch ,,Zwischen ich, du & wir“ sind in Zusammenarbeit mit SCM entstanden.
1 Chapter for Johnson & Whiffen edited book – Guilford Press 2003, Copyright Susan M Johnson (2002), S. 3.
2 Merbach, M. & Volger, I. (2010). Die Beziehung verbessern. Beratung von Paaren, die unter ihrer Kommunikation leiden, Vandenhoeck & Ruprecht, S. 31.
3 Ebd., S. 33.
4 Ebd., S. 31.
5 Ebd., S. 32.
6 Ebd., S. 32.
7 Koschorke, M. (2014). Wie Sie mit Ihrem Partner glücklich werden, ohne ihn zu ändern! Führerschein für Paare. Herder spektrum, S. 178.
8 https://www.psychologytoday.com/intl/blog/here-there-and-everywhere/202306/why-anxious-and-avoidant-attachment-attract-each-other
9 https://www.instagram.com/p/C5eEpjzLN09/?igsh=cWF4a2Joa2lvZ3Zi
10 Kallos-Lilly, V. & Fitzgerald, J. Wir beide. Das Arbeitsbuch zur Emotionsfokussierten Paartherapie (2. Aufl.). Junfermann, S. 67.
11 Ebd., S. 82.
12 Schutzbach, F. (2024). Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. Droemer Knaur, S, 15.
13 Kallos-Lilly, V. & Fitzgerald, J. a.o.O., S. 82.
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