Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2020_2) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Diagnose Krebs – Auf der Suche nach Wegen der Bewältigung
Eigentlich weiß man es ja: Auch ein Psychotherapeut kann Depressionen bekommen. Auch ein Pfarrer kann von Zweifeln überwältigt werden. Auch ein Arzt kann Krebs bekommen. Aber geht es ihnen dann doch irgendwie anders als anderen? Eine Innenansicht und einige Gedanken zu „Schulmedizin“, alternativen Heilmethoden und der Hoffnung auf ein Wunder.
Von Samuel Pfeifer
Ich bin ein Langzeitüberlebender. Mir wurde die schwere Last zugemutet, das Thema, über das ich hier schreibe, in einer schmerzlichen Selbsterfahrung zu erkunden. Vor sieben Jahren wurde ich aus dem vollen Leben als Chefarzt innerhalb von 48 Stunden in die andere Welt des Patient-Seins katapultiert. Mein damaliger Onkologe gab mir noch eine 5-Jahres-Überlebenschance von 15 %. Ich weiß wie es ist, alle Haare zu verlieren, mit Übelkeit und Schwäche zu kämpfen und mit dem Hämoglobin auf 7 g/l abzurutschen. Über Monate war ich dem Tod näher als dem Leben.
Dass ich heute über dieses Thema schreibe, ist für mich irgendwie ein Wunder. Damit sind wir schon mitten im Thema. Wir werden uns dabei auch kritisch mit dem Begriff des Wunders auseinandersetzen müssen. Ich muss gestehen, ich habe nicht für ein Wunder gebetet. Und ich erachte mich nicht als speziell ausersehen, dass ich ein Wunder verdienen würde. Meine erste Frage war vielmehr: „Welchen Grund soll es geben, dass ich von existenziellem Leiden verschont werde, der ich doch als Arzt selbst so viele Menschen auf ihrem Leidensweg begleite?“ Dennoch ist es nach dem Durchwandern des dunklen Tals einer Krebserkrankung wie ein Wunder, wieder im Leben stehen zu dürfen – eine Erfahrung, für die ich Gott dankbar bin.
Durch meine eigene Geschichte bin ich zum Mitreisenden von Menschen geworden, die von einem Krebsleiden betroffen sind. Krebs ist die wohl häufigste lebensbedrohliche Erkrankung schlechthin. Rund ein Drittel aller Menschen werden eines Tages mit dieser Diagnose konfrontiert. Meine eigene Erkrankung habe ich quasi auch von einer Außenperspektive betrachtet, als Forscher in einem fremden Land: Der Arzt Samuel Pfeifer interessierte sich brennend für den Patienten S. P. Und so habe ich auch zu ergründen versucht, wie Menschen mit der erschütternden Diagnose einer Krebserkrankung umgehen. Insbesondere habe ich versucht zu ergründen, was ihnen der christliche Glaube in der dunklen Nacht der Krebserfahrung gibt, welche Glaubenskonzepte sie haben, wie sie den Sinn ihres Lebens konstruieren und welche Wege der Hilfesuche sie beschreiten.
Daraus wurde sozusagen eine anthropologische Studie in der eigenen Kultur, eine christlich-subkulturelle Ethnografie des Krankheitserlebens im Kontext unserer Gesellschaft. Ich beschränke mich in diesem Artikel bewusst auf Menschen, die vor der Erkrankung bereits eine christliche Grundhaltung hatten.
Krebs als existenzielle Erschütterung
Eine Krebsdiagnose ist für jeden Menschen eine existenzielle Erschütterung. Die einst so sicher erscheinende körperliche Gesundheit bricht weg und weicht einer undefinierbaren Bedrohung der gesamten Existenz. Damals schrieb ich in mein Tagebuch: „Die Welt da draußen dreht sich weiter, während meine persönliche Welt vom Einstürzen bedroht ist.“
Die Publizistin Susan Sontag hat einmal das Bild von zwei Reisepässen gebraucht. Jeder von uns hat beide: einen für das Land der Gesundheit und der Lebensfreude und einen zweiten für das dunkle Land des Leidens, der Krankheit und der Schwachheit. Obwohl wir am liebsten nur im ersten Land leben würden, werden wir alle über kurz oder lang auch die Reise in das andere Land antreten müssen.
Christliches Weltbild zwischen Gottvertrauen und Vergänglichkeit
Auch gläubige Menschen sind von dieser Reise aus dem Land der Gesundheit ins dunkle Land der Vergänglichkeit nicht ausgenommen. Jeder Mensch hat im übertragenen Sinne ein Verfallsdatum. Es ist jedoch eine der Besonderheiten des christlichen Glaubens, dass sich nach dem Tod eine Perspektive der Ewigkeit eröffnet, von der Paulus fast enthusiastisch schreibt: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit.“
All das liest sich so leicht, wenn man nicht selbst betroffen ist. Menschen in der Grenzerfahrung einer potenziell tödlichen Erkrankung werden durch ihren christlichen Glauben oftmals nicht unmittelbar getröstet. Vielmehr finden sie sich in dem Spannungsfeld des persönlichen Wunsches zu überleben und den Verheißungen der Bibel für Gottes Durchtragen im Leiden und die „Herrlichkeit“ nach dem Durchschreiten des Todestors.
Der Glaube enthält Quellen des coping, des Bewältigens von schweren Erfahrungen. Viele gläubige Menschen haben mir in der Sprechstunde berichtet, wie sie beispielsweise durch Psalmen oder ermutigende Lieder in ihrem Leiden getröstet wurden und die Hoffnung dadurch nicht verloren. Doch da ist noch ein zweites Element: die Einbettung in eine christliche Subkultur, die allgemein als Gemeinschaft bezeichnet wird. Viele Menschen fühlen sich getragen dadurch, dass für sie gebetet wird, dass sie in der Krankheit nicht alleingelassen werden, dass gute Freunde und ihre Kirche Anteil nehmen an ihrem Schicksal.
Spiritual Distress
Coping durch den Glauben ist so lange wirksam, wie von medizinischer Seite Fortschritte sichtbar sind. Was aber, wenn die Blutmarker sich wieder verschlechtern, die Bildgebung erneute Rundherde zeigt? Hier beginnt für viele Menschen auch der spiritual distress, eine geistliche Auseinandersetzung, ein „Ringen mit Gott“. Da öffnen sich Abgründe der existenziellen Verarbeitung von Krankheit auf dem Hintergrund des Glaubens: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum lässt Gott das zu? Wofür muss ich büßen? Welche dunkle Kraft hat den Schutz von meinem Leben weggenommen?
Auf einmal scheint der Glaube nicht mehr zu tragen. Es kommt zu einer subjektiven Dekonstruktion all jener tröstenden Aussagen, die bisher das Coping ermöglichten. Die Dialoge im Buch Hiob illustrieren eindrücklich dieses Ringen mit Gott. Bevor es dann zu einer neuen, vertieften Gottesbeziehung kommt, beobachte ich bei vielen Menschen eine problematische Phase der Konstruktion von Sinnzusammenhängen und die verzweifelte Suche nach alternativen Wegen der Heilung. All diese Fragen des Glaubens und der Sinnsuche sind eingebettet in die medizinische Grundversorgung unserer Kultur.
Der Glaube im Kontext der Kultur der Medikalisierung
Die Erfolge der modernen Medizin im Bereich der Onkologie sind beispiellos. Auf keinem Gebiet gibt es so viele innovative Therapiestrategien wie in der Behandlung von Krebs. Es gibt heute deutlich mehr Langzeitüberlebende als in früheren Jahrzehnten. Die Schattenseiten der Nebenwirkungen oder die Exzesse hoher Preise für neue Krebsmittel seien hier nur am Rande erwähnt. Die Onkologie unserer Zeit ist eine Erfolgsgeschichte.
Die Hoffnung auf eine wirksame Medizin ist wohl der erste wesentliche Angelpunkt im Suchen nach Heilung. Trotz des Bekenntnisses zu einer Ewigkeitshoffnung beobachte ich auch bei gläubigen Menschen eine hohe Bereitschaft zur Behandlung mit allen Möglichkeiten der modernen Medizin. Leiden wird nicht als Teil des Lebens genommen, sondern als eine Störung, die es zu bekämpfen und zu eliminieren gilt. Viele beten nicht um ein Wunder, sondern um die Wirksamkeit der Medizin und für die Wiederherstellung der Gesundheit. Auch gläubige Menschen leben und denken im Rahmen der Kultur der Medikalisierung. Dennoch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass immer noch viele Menschen trotz mutigem Kampf ihrem Leiden erliegen. Damit bleibt eine onkologische Erkrankung nach wie vor eine existenzielle Herausforderung.
Die moderne Medizin erspart uns nicht, in einem weiteren Horizont zu denken als dem von Blutwerten, Markern, Dosierungen und Chemotherapie-Schemata. Hier setzt übrigens auch das relativ junge Fachgebiet der Psychoonkologie ein, in dem Psychologinnen und Psychologen Menschen in der existenziellen Verarbeitung ihres Leidens begleiten. Gläubige Menschen haben noch andere Ressourcen. Diese werden in meiner Beobachtung jedoch sehr unterschiedlich wahrgenommen. Hier vier Dimensionen der christlichen Krankheitsverarbeitung:
- intellektuell-distanziert vs. emotional-verzweifelt
- rational-medizinisch vs. irrational / mystisch / esoterisch
- stilles Gottvertrauen vs. angestrengter Gebetskampf
- Akzeptanz der Vergänglichkeit vs. Erwartung eines Wunders
Die Suche nach einem Wunder
In meiner Recherche bin ich auf Websites gestoßen, in denen „spezielle Gebete zur Heilung dieser Krankheit“ angeboten werden (www.adorare.ch). Da wird ganz konkret gebetet: „Bitte heile diesen Krebs in mir, der mich zunichtemachen und zum Tod führen will!“, oft illustriert mit Figuren der Mutter Maria oder einer Jesusstatue. Auf anderen Websites kann man Gebete „deponieren“, die dann einen viel weiteren Kreis von Betenden erreichen sollen. Wallfahrten an wunderwirkende Orte wie etwa Lourdes haben in der katholischen Kirche eine lange Tradition. Die andächtige Atmosphäre an diesen Orten ist Ausdruck der Hoffnung auf ein Wunder und auf Trost in der Krankheit. Eine Wallfahrt kann denn auch ein stilles, kontemplatives Erlebnis sein, ohne überhöhte Heilungserwartungen.
Vor allem im charismatischen Umfeld werden Heilungsgottesdienste angeboten, bei denen oftmals abenteuerliche Versprechungen gemacht werden – „Alles ist möglich!“ Ich kenne Menschen, die lange Reisen auf sich genommen haben, nur um einem besonders „bevollmächtigten“ Heiler zu begegnen. So sehr ich die Sehnsucht nach Heilung nachvollziehen kann, so muss immer wieder vor überhöhten Erwartungen gewarnt werden. Nicht selten wird dadurch die Option für eine wirksame Therapie mit bewährten medizinischen Mitteln verzögert oder gar verpasst.
Die Diskussionen um Wunder und heilendes Gebet können manchmal sehr hitzig (und unwürdig) werden. Der bekannte Publizist Helmut Matthies schilderte kürzlich den Gebetskampf am Krankenbett seiner damals 61-jährigen Frau, die an einem Pankreas-Karzinom starb. Sie habe das Ergebnis der Untersuchungen ganz gelassen hingenommen: „Ich bin auch jetzt in Gottes Hand. Ich weiß, wohin ich gehe.“ Dann beschreibt er folgende Szenen: ‚Für meine Frau wurde unglaublich viel gebetet. Aber es ging, nach einer ersten guten Phase, immer mehr bergab. Aber einige extreme Charismatiker – die große Mehrheit dieser auch viel Gutes bewirkenden Bewegung ist es nicht – gaben nicht auf. Noch in der Nacht vor ihrem Tod – acht Tage nachdem meine Frau in einen Tiefschlaf versetzt worden war – gab es vor ihrem Zimmer ein Wortgefecht. Eine Charismatikerin, deren Namen ich nicht mal kenne, fragte mich, wofür ich jetzt bete. Ich konnte ihr nur bekennen: „Dass meine Frau endlich zu ihrem Vater im Himmel kann.“ Daraufhin meinte sie: „Ich bete für genau das Gegenteil: dass sie morgen früh gesund das Krankenhaus verlässt.“‘
Die Hinterbliebenen sind oft konfrontiert mit vorwurfsvollen Erklärungen für die Wirkungslosigkeit des Gebetes: Sie hätten nicht genügend geglaubt, das Wirken des Heiligen Geistes blockiert oder gar noch hemmende Einflüsse in ihrem Leben. Wie nahe sie damit einer esoterischen Sinnsuche sind, ist ihnen häufig nicht bewusst.
Komplementärmedizin als sanfte Alternative?
Alternativmedizin spricht ganz allgemein grundlegende Bedürfnisse des Menschen an. Alternative Heiler wagen nicht selten viel zuversichtlicher als Ärzte, Versprechungen zu machen, und kommen damit dem Sicherheitsbedürfnis vieler Patienten entgegen. Oft erhoffen sich Patienten bei alternativen Heilern auch mehr Zuwendung als beim Arzt. In der Tat kann eine minutiöse Befragung bei der Bach-Blütentherapie oder das ausführliche Ritual einer psychokinesiologischen Untersuchung ein vertieftes Gespräch ermöglichen, das weit über die Zuwendung im Rahmen einer kurzen ärztlichen Konsultation hinausgeht. Gerade bei psychischen und psychosomatischen Beschwerden stehen die Bedürfnisse nach seelischer Harmonie, nach Lebenssinn und Frieden mit sich und der Welt im Vordergrund. Die Botschaft von der Rückkehr zu den Wurzeln, von Selbstfindung und Einswerdung mit dem Kosmos fällt hier auf besonders fruchtbaren Boden.
Auch die Frage nach der Ursache wird völlig neu beantwortet. Die so gewonnene Antwort auf die Frage „Warum bin gerade ich krank geworden?“ erzeugt aber oft auch weitere Schuldgefühle. In einem psychologisierenden Ansatz, der die häufigsten Ursachen von Krankheiten in Ärger, Groll und Schuldgefühlen sieht, wird gefragt, ob es unterdrückte Gefühle oder einen psychogenen Schock, möglicherweise schon in der frühen Kindheit, gegeben habe. Andere vermuten in Anlehnung an Buddhismus und Hinduismus ein sündhaftes Verhalten oder eine „karmische Vorbelastung“. Und schließlich gibt es die Hypothese von schädlichen Umwelteinflüssen, Elektrosmog oder pathogenen Wasseradern unter dem Bett, die es abzuschirmen gelte. Eine Übersicht zu alternativen Krebserklärungen und Heilungsangeboten findet sich bei Christian Ruch in einer Veröffentlichung der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen.
Wie „christlich“ ist eigentlich die Schulmedizin?
Wissenschaftliche Systeme neigen oft dazu, überheblich zu werden, Erfolge als Resultat menschlicher Genialität zu feiern und dabei Gott außen vor zu lassen. Bis heute erlebe ich bei einzelnen Wissenschaftlern immer wieder eine einseitige Methodengläubigkeit, die jegliche Transzendenz ausschließt. Auf der anderen Seite gibt es sehr einfühlsame Ärzte, die die „Schulmedizin“ benutzen, sich gleichzeitig aber bewusst sind, dass die komplexe Welt der Schöpfung noch viel mehr Fragen aufwirft, als die Wissenschaft je beantworten kann. Der einfühlsame Arzt wird im Sinne einer Medizin der Person immer wieder versuchen, sich in die Glaubenswelt seiner Patienten einzufühlen, und dennoch diejenigen Mittel anwenden, für die es ausreichende Belege der Wirksamkeit gibt. Fromme Reden allein machen weder Schulmedizin noch Komplementärmedizin christlich – wenn es bei schweren Erkrankungen um die Frage des Überlebens geht, ist eine wissenschaftlich abgesicherte Medizin für mich eine unabdingbare Ergänzung in einer ganzheitlichen Behandlungsstrategie, wie sie auch eine christliche Medizin verfolgen sollte.
Therapeutisch- seelsorgliche Begleitung
In meinen Gesprächen mit Menschen, die an lebensbedrohlichen Krankheiten leiden, gehen wir oft einen Weg von der Auflehnung und Angst hin zu einer Akzeptanz des Unvermeidlichen. Themen und Fragen sind: das Sich-Eingestehen der existenziellen Angst (Vorbilder finden sich schon in den Psalmen); die Berechtigung kritischer Rückfragen an Gott und die Unbeantwortbarkeit letzter Fragen. Und oft bringen meine Patienten selbst auch die Hoffnung auf ein Leben jenseits des Leidens, eine Hoffnung, deren Kraft man nicht unterschätzen darf.
In meinen Gesprächen haben sich die folgenden vier Leitlinien herauskristallisiert:
- Zerbrechlichkeit gehört zu unserem Leben. Es kann auch mich treffen, und wenn ich „noch so gläubig“ bin.
- Die Medizin gebrauchen, aber nicht als alleinigen Weg zur Bewältigung der Krankheit.
- Die Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn manche Versprechungen und Wünsche nicht in Erfüllung gehen.
- Lernen, im Dunkeln zu gehen. Gott ist da – auch in den Zeiten der Wüstenwanderung.
Prof. Dr. Samuel Pfeifer, geboren 1952, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er war lange Jahre Chefarzt der Klinik Sonnenhalde in Riehen bei Basel und lehrt im Masterstudiengang „Religion und Psychotherapie“ an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg.