Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Die Sisyphosarbeit – mein besonder Patient
Erfahrenen Praktikern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen und an diesem Modell lernen, spirituelle Anliegen und psychotherapeutische Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen – das ist die Zielsetzung unserer Rubrik. Besonders kann daran das Problem des Ratsuchenden, der Verlauf der Begegnung oder das methodische Vorgehen sein, egal ob das Setting nun Seelsorge, Beratung oder Psychotherapie heißt. Die Darstellung erfolgt in stark anonymisierter Form und / oder mit dem Einverständnis der Betroffenen. Im Mittelpunkt der Fallgeschichten steht der Hilfe suchende Mensch mit seinen existenziellen Herausforderungen und Glaubensfragen.
Von Prof. Dr. Henning Freund
Ich war tatsächlich sehr überrascht. Mein Patient erzählte mir, dass er schon über mehrere Jahre ein Dankbarkeitstagebuch führe, und zwar jeden Morgen und jeden Abend. So sei schon eine kleine Bibliothek von acht bis zehn Dankbarkeits-Bänden zusammengekommen (Mit den Händen deutete er dabei einen ganzen Regalmeter seines Bücherschranks an). Am Morgen schreibe er auf, wofür er an diesem Tag dankbar sein wolle und vor dem Schlafengehen, wofür er im Rückblick auf den Tag dankbar sei. Normalerweise bin ich als dankbarkeitsaffiner Therapeut meist der Erste, der bei entsprechender Indikation eine Dankbarkeitsintervention vorschlägt. Doch dieser Patient hatte mich von rechts überholt. Nicht nur mit der Intervention war er mir zuvorgekommen, sondern auch in der Intensität seines Handelns hatte er bei weitem übertroffen, was ich je einem meiner Patienten zugemutet hätte.
Ich begann neugierig zu werden und ließ mir die Sache mit dem Dankbarkeitstagebuch näher erklären. Er war auf einem Weiterbildungsseminar für Manager auf das Thema Dankbarkeit gestoßen. Dort erfuhr er, dass Dankbarkeit zu mehr Wohlbefinden führe. Anstatt auf das zu schauen, was schlecht gelaufen sei, solle man in den Blick nehmen, was schon an Gutem im eigenen Leben vorhanden sei – besonders die Selbstverständlichkeiten. Ich konnte ihm nur zustimmen, den diese Ausführungen entsprachen ganz dem Credo der therapeutischen Dankbarkeitsliteratur.
Doch etwas irritierte mich. Bei seinen Ausführungen fehlte jegliche Form von Freude oder Begeisterung für die guten Dinge des Lebens. Es klang eher, als würde er eine schwere Arbeit verrichten. Mit monotoner Stimme erklärte er den Gehalt einer solchen Selbst-Konditionierung: „Es ist ein Instrument, ein Tool, um sich auf die Dinge zu fokussieren, die positiv sind.“ Er denke dann vor allem an Dinge, die er bisher selbst geschafft habe, zum Beispiel an seinen Aufstieg vom Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen zum Akademiker mit eigenem Haus, oder an seine beruflichen Erfolge.
Wegen einer Depression war er in Therapie gekommen. Diese war durch eine Kündigung seines Jobs als Finanzberater ausgelöst worden. Vor allem morgens ging es ihm besonders schlecht. Dann begann er mit seinem Morgenritual. Zunächst überlegte er sich, wofür er an diesem Tag dankbar sein wollte, und schrieb es gewissenhaft auf. Dann las er einen Abschnitt in der Bibel, der für diesen Tag angegeben war. Anschließend machte er ausgiebig Sport, um seinen Köper fit zu halten. Besonders viel Zeit nahm er sich für die Körperpflege im Bad. So konnten schon mal zwei bis drei Stunden zusammenkommen, doch Zeit hatte er ja in seiner Arbeitslosigkeit zur Genüge. Nach dieser morgendlichen Prozedur ging es ihm auch tatsächlich meist etwas besser. Doch am nächsten Morgen war dieser Effekt verschwunden, und er versuchte erneut, sich aus dem Tief herauszuarbeiten. Mir kam das Bild von Sisyphos aus der griechischen Mythologie in den Sinn, der unablässig einen Felsblock auf einen Berg hinaufwuchten muss. Doch kurz vor dem Gipfel entgleitet ihm der Stein und rollt wieder in die Tiefe.
Warum wollte sich bei diesem Patienten trotz dieser eindrucksvollen Beschäftigung mit der Dankbarkeit keine nachhaltige Besserung einstellen? Vielleicht war er einfach zu depressiv, um die die wohltuende Wirkung einer dankbaren Perspektive auf das Leben auch emotional erleben zu können. Der US-amerikanische Dankbarkeitsforscher Phillip Watkins erklärte die Selbstoptimierungsfalle von mechanisch praktizierter Dankbarkeit folgendermaßen: „Im Kern ist Dankbarkeit eine auf den Anderen fokussierte Emotion, und intrinsische Dankbarkeit ist immer auf den Geber ausgerichtet. Dankbarkeitsinterventionen, die die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst fördern, müssen zwangsläufig nach hinten losgehen“.1 Es könnte also sein, dass die Instrumentalisierung von „spirituellen Tools“ wie Achtsamkeit oder Dankbarkeit zur zielgerichteten Erlangung von Wohlbefinden, den Kerngedanken dieser jahrtausendalten Praktiken entstellen und verfehlen.
Zum Abschluss der Therapie überreichte der Patient mir ein Geschenk. Er hatte für mich eine Dankbarkeitscollage gebastelt: ein Blatt mit dreißig Fotos oder Abbildungen von Dankbarkeitsanlässen. Wie erleichtert war ich, als ich entdeckte, dass über die Hälfte der Bilder andere Personen zeigten: seine Frau und Kinder, Freunde und Arbeitskollegen, Jesus, Eltern und sogar mich, seinen Therapeuten. Sisyphos hatte es offensichtlich geschafft, den Felsblock auf dem Gipfel abzulegen.
Prof. Dr. Henning Freund ist Studienleiter des Weiterbildungsstudiengangs M. A. „Religion und Psychotherapie“ an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg und als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg tätig.
Henning Freund / Dirk Lehr: Dankbarkeit in der Psychotherapie. Ressource und Herausforderung, Hogrefe, Göttingen 2020
1 Philip C. Watkins: Gratitude and the good life. Toward a psychology of appreciation, Springer, Dordrecht 2014, S. 238.