Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Scham: „Ein unerträgliches Gefühl mit Schutzfunktion“
Pfarrer Christian Meier arbeitet an einer Doktorarbeit über Scham. In der Seelsorge und Beratung begegnet ihm das Thema immer wieder. Als Theologe und systematischer Berater möchte er den Fragen nun grundlegend auf die Spur kommen.
Was ist das Thema Ihrer Arbeit, und wie sind Sie gerade auf dieses Thema gekommen?
Eine Frau suchte mich für ein Gespräch auf. Vorgängig wollte sie über den Kreuzestod von Jesus Christus sprechen. Bald wurde deutlich, dass sich dahinter eine andere Geschichte verbarg. Es ging um eine persönliche Schuldfrage, die sie seit vielen Jahren mit sich trug. Über vierzig Jahre konnte sie nicht darüber sprechen. Ihr Lebensbezug veränderte sich drastisch. Innere Isolation wirkte sich auf das Lebensgefühl aus. Als im Gespräch die Scham betrachtet und angesprochen werden konnte, fing sie an, die ausweglose Situation zu verändern. Es war ein längerer Prozess. Tief berührt verstand ich damals, dass der Schamaffekt eine starke Kraft ausübt. Ein professioneller Umgang damit ist zentral. Solche Geschichten erlebe ich in meinem Berufsalltag immer wieder.
Die Schamerfahrung ist ein Moment schmerzhafter Selbsterkenntnis und Selbstentfremdung. Scham als hemmend für die eigene Entwicklung zu taxieren, würde dieser Emotion aber Unrecht tun. Keine andere Emotion prägt die Nähe und Distanz der zwischenmenschlichen Beziehung. Die Emotion Scham ist archaisch mit unserem Sein verbunden und hat ihren Zweck. Deshalb ist eine negative Haltung gegenüber dieser Emotion zu hinterfragen. Scham ist nicht nur ein unerträgliches Gefühl, sondern sie hat auch eine Schutzfunktion.
Schambehafteten Menschen droht die Gefahr, dass Scham übersteigert wird und zu dysfunktionalem Verhalten führt. Nicht regulierte Scham kann nicht nur zu Rückzugstendenzen führen, sondern reduziert den Selbstwert kontinuierlich. Ein Umgang mit der Scham zu finden, ist entscheidend, um Blockaden zu lösen. Diese Emotion zu regulieren, ermöglicht ein stabileres Arbeitsbündnis und Zugang zu tieferliegenden Schichten.
Seit vielen Jahren arbeite ich als Seelsorger im Kontext der Gemeindearbeit. Aus dieser Tätigkeit heraus entstanden grundlegende Fragen zum Thema Scham. Mein Dissertationsthema entspringt gänzlich aus der Praxis. Die Emotion Scham ist insofern interessant, da sie aus soziologischen, psychologischen und theologischen Aspekten betrachtet werden kann. Sie bilden eine spannende Schnittmenge, die wiederum für die Behandlung fruchtbar gemacht werden kann.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen?
Meine Dissertationsarbeit befindet sich noch in der Anfangsphase. Gegenwärtig bin ich daran, die unterschiedlichen Bezüge zum Thema zu sichten. Es geht darum, eine breite Literaturübersicht im deutschsprachigen Raum zu erarbeiten. Ich frage mich dabei, was ein Theologiestudierender über diese Emotion erfahren kann. Bereits jetzt wird deutlich, dass die praktische Ausbildung wenig Bezüge anbietet. Die Forschung zu diesem Thema hat eine Relevanz. Weiter beschreibe ich die Schamtheorie. Dabei werden nicht nur phänomenologische und sprachliche Bezüge sichtbar gemacht, sondern auch entwicklungspsychologische Aspekte beschrieben. Scham wird bereits in der frühkindlichen Phase entwickelt und involviert deshalb psychoanalytische Themen.
Scham ist reflektiv. Sie führt unweigerlich in die Auseinandersetzung mit sich selbst. Scham ist nicht nur ein negatives Gefühl, sondern diese Emotion hat auch einen Schutzcharakter. Sich über Situationen zu schämen, ist ein Frühwarnsystem. Diese Psychodynamik ist wichtig und vermittelt diesem Affekt positive Aspekte.
Um eine Behandlung der Scham zu strukturieren, braucht es auch eine Unterscheidung zur Angst, zur Schuld und zur narzisstischen Kränkung. Scham und Schuld zu vermischen, würde bedeuten, dass sie gleichzubehandeln wären. Für die Praxis ist deshalb eine diagnostische Abgrenzung wichtig. So kann ein dysfunktionaler Umgang verhindert oder korrigiert werden.
Ziel ist es, eine schamsensible Seelsorge zu entwickeln. Deshalb drängt sich neben dem theoretischen Teil ein Praxisbezug auf. Das methodische Vorgehen ist noch nicht definiert. Ein mögliches Vorgehen könnte die Methode der Grounded Theory sein.
Welche drei zentralen Einsichten sind auch für Menschen interessant, die nicht mit der Thematik vertraut sind?
Erstens: Scham hat positive Aspekte. Sie schützt meinen Wesenskern vor unangenehmen Situationen. Dieses Frühwarnsystem wird aber oft übergangen. Zweitens: Scham ist keine Schuld. Zu schnell werden beide Emotionen miteinander vermischt. Schuld sagt etwas darüber aus, was ich falsch getan habe. Scham beschreibt einen Zustand: „Ich werde nicht gesehen.“ „Ich bin ungenügend.“ Drittens: Ein bewusster Umgang mit Scham, stabilisiert den Umgang mit anderen Menschen. Weil ich die Scham kenne und wahrnehme, kann ich Situationen besser einordnen und bewusster agieren. Ich kann mich selbst schützen oder verletzende Situationen ansprechen.
Was hat Sie am meisten überrascht?
Mich überrascht, wie einseitig mit dem Schamaffekt umgegangen wird. Er wird mehrheitlich negativ bewertet. Die Schutzfunktion geht vergessen. Weiter frage ich mich, weshalb im Bereich der Pfarrausbildung so wenig über Scham vermittelt wird. Die Scham beeinflusst die Dynamik zwischen Menschen. Ihre Wirkung zu kennen und zu regulieren, verändert die seelsorgerliche Arbeit.
Worin besteht die Praxisrelevanz Ihrer Arbeit?
Die Relevanz dieser Arbeit zeigt sich darin, dass sie neben praktischen Bezügen einen fundierten Zugang zum Schamaffekt und auch einen professionellen Umgang mit dieser Emotion aufzeigen soll. Scham regulieren bedeutet, die Psychodynamik zwischen Nähe und Distanz zu gestalten. Wird die Scham nicht unterdrückt, sondern als Hinweis für relevante Themen akzeptiert, können beachtliche Fortschritte in der Lebensqualität von Seelsorgesuchenden erzielt werden. Ich blicke als systemischer Berater und Theologe auf dieses Phänomen.
Aus psychologischer Sicht möchte ich den Schamaffekt wesenhaft verstehen. Als Theologe frage ich mich: Welchen Beitrag leistet der christliche Glaube zu einer angemessenen Bewältigung der Schamrealität? Beide Bezüge sind relevant.
Was würden Sie gerne als Nächstes erforschen?
Gerade vertiefe ich mich in die entwicklungspsychologischen Aspekte der Scham und entdecke, wie prägend Scham für das Lebensgefühl sein kann. Dabei fällt mir auf, wie zentral der Umgang mit der Selbstgrenze ist. In einer grenzenlosen Gesellschaft, in der scheinbar alles möglich sein soll, wird das Thema Grenzen wiederum wichtig. Verzicht und Selbsteinschränkung erhöhen die Lebensqualität. Wie dies in unsere Lebenskonzepte integriert werden kann, interessiert mich besonders.
Christian Meier, geboren 1975, hat als Lehrer in Jerusalem, Thun und Bern gearbeitet. Er hat Theologie und Philosophie an der Universität in Bern studiert und wurde 2009 ordiniert. Er arbeitet als Pfarrer in der reformierten Kirche Gossau ZH. Seit Frühling 2022 ist er Doktorand in Praktischer Theologie bei Prof. Dr. Ralph Kunz.
WISSENSCHAFT, AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Viele Menschen, die sich wissenschaftlich mit Fragen von Psychotherapie und Seelsorge befassen, arbeiten an Themen, die auch außerhalb des universitären Umfelds Interesse verdienen. In dieser Serie stellen wir solche Arbeiten vor, auch wenn eine Zusammenfassung auf wenigen Seiten unmöglich erscheint. Ein Bogen mit 6 Fragen hilft dabei.