Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Erwachsen wie ein Kind
Es ist schon viel darüber gepredigt worden, dass Jesus seine Zuhörer dazu auffordert, wie Kinder zu werden. Aber was bedeutet das für einen reifen Glauben und das Kind in uns?
Von Dieter Martschinke
Das Erwachsenenalter lässt sich nicht genau abgrenzen. Gewöhnlich wird es angesetzt zwischen 25 und 40 Jahren. Es ist die Zeit, in der Frauen und Männer in der Blüte ihrer Kraft stehen, in der sie eine Familie gründen und ihren Beruf gefunden haben. Mitunter bauen sie in dieser Zeit ein Haus oder richten sich eine Wohnung ein. Sie sind voller Kraft und voller Ideen. Sie haben das Gefühl, dass sie die ganze Welt bewegen können. Andererseits gibt es in diesem Alter auch Menschen, die sich nicht trauen, Verantwortung zu übernehmen für sich und ihr Leben. Sie machen eine Fortbildung nach der anderen, aber sie scheuen davor, sich in einem Beruf zu binden oder eine verantwortliche Stelle anzunehmen.
Gleichwohl heißt Erwachsensein auch: Da wir schon ein Stück Geschichte miterlebt haben, tragen wir auch geschichtliche Verantwortung. Unsere Gedanken prägen diese Welt. Unsere Taten prägen sich in sie ein. Jeder formt mit seiner Lebensspur bewusst oder unbewusst die Zukunft mit. Wir sind nicht nur verantwortlich für unsere Taten, sondern auch für unsere Worte. Sind es Worte, die Leben wecken oder verhindern, die ermutigen oder lähmen, die aufrichten oder beugen, die, aufs Ganze gesehen, Hoffnung vermitteln oder Verzweiflung.
EINE VERBLÜFFENDE BEGEGNUNG
Der Verfasser des Markusevangliums berichtet uns von einer überraschenden Szene, in der es um eine Neuorientierung und ein Modell geht, wie sich unsere Lebensspur heilsam auswirken kann: „Da brachte man Kinder zu Jesus, damit er ihnen die Hände auflegte. Die Jünger aber wiesen die Leute schroff ab. Als Jesus das sah, wurde er ungehalten und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er nahm die Kinder in seine Arme; dann legte er ihnen die Hände auf und segnete sie.“ (Mk 10,13-16).
Die Jünger meinen, Kinder würden Jesus nur vom Eigentlichen abhalten. Daher schicken sie die Leute, die ihre Kinder bringen, schroff weg. Sie sehen in diesem Vorfall eher eine Störung oder Zumutung. Jesus aber sieht das völlig anders. Er wird wütend und fährt seine Jünger richtig an. Das hier benutzte griechische Wort ist der schärfste Ausdruck, der jemals für eine Reaktion Jesu verwendet wird. Man kann es auch übersetzen: „Da platzte ihm der Kragen …“ – oder „da fuhr er aus der Haut …“. Die Jünger werden perplex gewesen sein. Sie hatten es doch nur gut gemeint. Warum dieser heftige Gefühlsausbruch?
Der Schlüsselsatz dieser Szene lautet: „Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes …“ Das ist die Begründung, warum dieser Vorgang für Jesus so wichtig ist. Er erklärt auch seine unerwartete emotionale Reaktion. Es handelt sich hier um eine Zusage von großem Gewicht. Mit dieser Zusage durchbricht Jesus sowohl das vorherrschende antike Verständnis als auch das jüdische Denken vom Kind und setzt völlig neue Maßstäbe. Er schenkt den Kindern das Reich Gottes. Einfach so. Er begründet das auch nicht. Und damit macht er allen Kindern dieser Erde das Reich Gottes zum Geschenk. Das größte Geschenk, das ein Mensch überhaupt bekommen kann. Mehr als das Reich Gottes gibt es nicht. „Reich Gottes“ ist das Ziel all unserer Hoffnungen – der „Schalom“, der Friede Gottes, der alles umfasst – Glück, Freude, Leben im Vollsinn. Das alles gehört Kindern. Es ist ihnen geschenkt. Eine solche Blanko-Zusage gibt Jesus keinem Erwachsenen.
ORIENTIERUNG AM KIND
Und dann richtet er noch einmal das Wort an seine Jünger: „Amen, ich sage euch, wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen“ (Vers 15). Mit diesem Satz macht Jesus in der entscheidenden Frage nach dem „Reich Gottes“ – das „Kindsein“ den Erwachsenen zu einem Modell und
Orientierungspunkt. Und um die besondere Bedeutung dieses Satzes hervorzuheben, benutzt er die feierliche Formulierung: „Amen, ich sage euch …“ – wie er es auch in anderen wichtigen Begegnungen tut. So kennzeichnet er besondere Sätze, die er als Offenbarung von Gott empfangen hat und nun den Menschen weitergibt. Nach diesem Wort Jesu liegt das „Kindsein“ nicht einfach „hinter“ uns, sondern in gewisser Hinsicht auch „vor“ uns. Das heißt, in den entscheidenden Dingen des Lebens können wir die Kinder nicht überholen. Wir können sie höchstens einholen, indem wir werden wie sie. Damit kehrt Jesus das übliche Lehr-Lern-Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern total um. In den wichtigsten Fragen des Lebens haben die Erwachsenen von den Kindern zu lernen. Sie können uns Erwachsenen die Augen öffnen für das, was bei Gott wichtig ist.
LERNEN VON KINDERN
Was bedeutet das Reich Gottes annehmen „wie ein Kind“ und „werden wie die Kinder“ (Mt 18,3)? Worin liegt das Beispielhafte der Kinder, an dem Erwachsene sich orientieren sollen? In der traditionellen Auslegung dieser Kinderworte Jesu hat man das Beispielhafte in bestimmten Eigenschaften der Kinder sehen wollen. Kinder seien einfältig, naiv, gut-gläubig etc. Wer selbst Kinder hat, weiß, das hat mit realen Kindern wenig zu tun. Dahinter stehen meist Idealisierungen oder Vorurteile gegenüber dem kritischen, selbstständigen Denken oder der Wunsch, Kinder mögen doch bitte die bestehenden Verhältnisse so belassen, wie sie sind und nicht weiter stören. Besonders die Einschätzungen, Kinder seien naiv oder einfältig gehen völlig an der Realität vorbei. Nie mehr lernen wir so schnell und viel wie in den ersten Lebensjahren. Kinder sind neugierig, interessiert, offen und wissbegierig. Auch die romantische Vorstellung von der „Unschuld“ der Kinder kennt die Bibel nicht. Es geht bei dem „Wie-ein-Kind“-Werden nicht um bestimmte Eigenschaften der Kinder, sondern um ihre grundsätzliche „Lebenssituation“. Und die ist vor allem durch drei Aspekte gekennzeichnet:
(1) Kinder haben keine gesellscha liche Macht … Und sie tun auch nicht so, als hätten sie welche. Darum geht es Jesus. Er will seinen Jüngern bewusst machen, dass zu einem Leben im Reich Gottes eine bestimmte Lebenseinstellung gehört, eine bestimmte Grundhaltung anderen Menschen gegenüber. Das Streben nach Macht, Ansehen und Privilegien ist mit dem Reich Gottes nicht zu vereinbaren. Die Abstände zwischen den Menschen, die sich in Rang, Titel, Kleidung und anderen Statussymbolen ausdrücken, verlieren im Reich Gottes jeden Sinn und jede Berechtigung. Im Reich Gottes erhebt sich kein Mensch über den anderen. „Reich Gottes“ heißt für Jesus: Orientierung an den Machtlosen – den Kindern und Armen. Sie führen keine Titel. Wo sich Menschen nicht mehr über andere erheben, sondern sich als Kinder des einen Vaters verstehen und so miteinander leben – dort ist das Reich Gottes. Mit diesem Aspekt des „Kindseins“ sind noch zwei weitere verbunden.
(2) Kinder leben von dem, was sie bekommen … Sie brauchen Nahrung, Kleidung, Wohnung und vor allem Zuneigung. Ihr Leben ist ein ständiges Annehmen. Sie sind darüber nicht traurig, sondern finden das so in Ordnung. Wenn sie etwas brauchen, melden sie sich. Kommt Besuch, fragen sie mitunter: „Hast du mir was mitgebracht?“ Manchmal fassen sie auch in die Taschen, um nachzusehen. Kinder leben deutlicher und selbstverständlicher als Erwachsene so, wie es Gott, dem Schöpfer, gegenüber angemessen ist: Geschöpfe leben von dem, was der Schöpfer ihnen gibt. Das Sprichwort – „Man bekommt im Leben nichts geschenkt“ – mag vielleicht stimmen im Blick auf die Regeln, an denen sich unsere Gesellschaft orientiert. Es ist aber falsch, wenn es um die Grundlagen unseres Lebens geht. Unser Leben, unsere Eltern, die Erde mit ihren wunderschönen Landschaften und wertvollen Rohstoffen, die Sonne und der Sauerstoff – alles Entscheidende haben wir geschenkt bekommen.
(3) Kinder stehen am Anfang … Für sie ist vieles neu. Sie erleben vieles zum ersten Mal. Sie sind neugierig und leben immer in der Erwartung, dass etwas kommt. Sie wollen möglichst schnell groß werden. Kinder erwarten viel vom Leben und von uns. Welche großartigen Möglichkeiten und Hoffnungen stecken in einem Kind?!
In diesen Dingen sollen wir werden wie die Kinder. So wenig, wie Kinder sich von der Macht her definieren, so wenig sollen auch wir es tun. Wie viel Nähe kann unter uns Menschen entstehen, wenn wir au ören mit der Selbstdarstellerei, uns ins Rampenlicht zu stellen und uns über andere zu erheben. So wie ein Kind von dem lebt, was es bekommt, so sollen wir vom Reich Gottes leben. Wie ein Kind ungeniert nach dem greift, was es zum Leben braucht, so sollen wir nach dem Reich Gottes greifen. So viel wie ein Kind vom Leben und von uns erwartet, so viel sollen wir von Gott erwarten. So sehr, wie ein Kind gespannt ist auf die Zukunft, so sollen wir auf Gott und seine Möglichkeiten gespannt sein. Solches Lernen von Kindern wird uns ein Leben lang begleiten und führt zu einer neuen Grundeinstellung zum Leben, den Menschen und Gott gegenüber. Einer Einstellung, die wir Erwachsenen verlernt, vergessen oder verdrängt haben. Wenn der Geist Gottes uns daran erinnert, werden wir immer deutlicher spüren: Es gibt keine schönere, bessere und menschlichere Einstellung zum Leben.
DAS KIND IN UNS
Wie Jesus Kindern begegnet, weist uns noch auf einen tieferen Zusammenhang. Wenn vom „Kindsein“ die Rede ist oder wir mit Kindern sprechen, kann es sein, dass frühe Erfahrungen und Erinnerungen wieder in uns lebendig werden. In jedem von uns lebt noch das Kind, das wir einmal waren. Und dieses Kind ist immer noch sehr lebendig in uns. Es ist die Quelle unserer Lebendigkeit. Es ist neugierig, vital und voller Tatendrang. Allerdings haben viele Erwachsene den Kontakt zu ihrem „Inneren Kind“ verloren und damit auch ihre Lebendigkeit und Lebensfreude. Mitunter spüren sie das wehmütig oder sehnen sich danach, wieder einmal so unbekümmert, spontan und fröhlich sein zu können, wie sie das als Kind einmal erlebt haben.
Das Reich Gottes anzunehmen wie ein Kind, Gott in sich Raum zu gewähren, bedeutet zugleich auch, ganz „ich selbst“ zu werden – der Mensch, den Gott gemeint hat, als er uns mit Namen ins Leben gerufen hat. Ohne die Rollen und Masken, von denen wir meinen, sie vor Gott und den Menschen aufsetzen und spielen zu müssen. Wie Jesus die Kinder in seine Arme nimmt – so wie sie sind – können auch wir mit dem Kind in uns – so wie es ist – in Berührung kommen. In uns gibt es ein verletztes Kind, das oft übersehen, geschlagen, gekränkt worden ist. Und in uns ist auch das Kind nach dem Bild, das Gott sich am Anfang von uns gemacht hat. Dieses Kind ist die Quelle von Kreativität und Lebendigkeit, von Ursprünglichkeit, Authentizität und Lebensfreude. Wenn wir das verletzte Kind in den Arm nehmen, hört es auf zu trauern und uns am Leben zu hindern. Es darf so sein, wie es ist, hilflos, verwundet und allein gelassen. Durch das verletzte Kind
hindurch können wir aber auch das andere Kind in uns entdecken, das Gott gemeint hat. Es war schon immer in uns und hat uns den Weg gewiesen, durch alle Gefährdungen und Verwundungen hindurch zu kommen.
Jesus segnet die Kinder, indem er ihnen die Hände auflegt. Das verletzte Kind in uns braucht eine solche schützende und segnende Hand. Der Segen Jesu ist wie ein Schutzraum, in dem Kinder sich behütet fühlen, geborgen, gehalten. In diesem Schutzraum kann auch das verletzte Leben in uns wieder heilen und aufblühen.
Welch ein schönes Bild: Jesus nimmt sich Zeit für die Kinder. Er belehrt sie nicht, weil er in ihnen das Unverfälschte und Unverbogene des Menschen sieht. Über das ursprüngliche unverfälschte Bild Gottes in uns hält er schützend und segnend seine Hand. Jesus segnet auch das verletzte Kind in mir, gegen alle kritischen Stimmen meines „Eltern-Ichs“, die mir einreden wollen, es gäbe Wichtigeres im Leben zu tun, als mich mit meinem Inneren Kind abzugeben. Hören wir auf diese kritischen Stimmen, bringen wir uns selbst um unsere Lebendigkeit und Lebensfreude.
Heute finden sich zahlreiche Veröffentlichungen und Therapieangebote, die Erwachsenen helfen, ihr volles Potential zu entwickeln durch die Integration des Kindes in uns. Einen Weg zeigt auch der Artikel von Martin Grabe in dieser Ausgabe. So werden Verletzungen aus der Kindheit unser Leben nicht länger vergiften und stören. Dafür erschließt sich eine sprudelnde Quelle von Kreativität, Lebensfreude und Vitalität, wer sich seinem „Inneren Kind“ zuwendet. Hilfreich für Klienten, die sich auf diesen Prozess einlassen wollen, kann das Praxisbuch von Peter Bartning sein: „Auf dem Weg zum Inneren Kind – Leben im Einklang mit sich selbst“. Und immer wieder der Klassiker der Psychotherapeutinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul: „Aussöhnung mit dem Inneren Kind“ – mit einem wertvollen dazugehörigen Arbeitsbuch.
Dieter Martschinke ist Pastor, Gestaltpsychotherapeut und Supervisor DGSv.