Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_2) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Gebet als Übung – Erfahrungen mit dem Herzensgebet
von Nicol Kaminsky
Ich bin ein Morgenmuffel. Meine innere Uhr sieht nicht vor, dass mein Hirn am frühen Tag kreative Prozesse steuert oder anderes ermöglicht als quasi automatisierte Abläufe. Mir ist bewusst, dass es Menschen gibt, die mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen aus dem Bett hüpfen. Leider ist es nicht immer eine Frage meiner Wahl, ob sie das in hörbarer Nähe tun. Mir fehlt zu früher Stunde dafür das Verständnis.
Anfang der Neunzigerjahre lebte ich mit meiner Familie in Gaborone, der Hauptstadt Botswanas. Mein Mann und ich arbeiteten als Theologen in der Evangelical Lutheran Church of Botswana und bewohnten ein Pfarrhaus auf einem Gemeindegrundstück, auf dem sich auch ein aus allen Nähten platzender Kindergarten befand. Der dazu gehörige Spielplatz grenzte unmittelbar an unser Schlafzimmer. Ab 6.30 Uhr herrschte ein ausgesprochen reges Treiben, das akustisch gekrönt wurde von der Stimme eines hellwachen Fünfjährigen, der es in der Nachahmung amerikanischer Polizeisirenen zur Perfektion gebracht hatte – auch, was die Lautstärke anbelangt. Ich war verzweifelt und ersehnte nichts mehr als die Möglichkeit, mir über Kopfhörer „alles übertönende Stille“ auf die Ohren spielen zu können.
Die von mir geschätzte und jahrzehntelang praktizierte „Stille Zeit“ als Zeit der persönlichen Bibellese und des Gebets war damals für mich undenkbar. Ich merkte, dass ich gegen meine Müdigkeit und meinen daraus wachsenden Unmut anbetete: „Herr, erbarme dich!“ – unfähig, einen anderen Gedanken zu fassen. Nach und nach ließ ich diesem Satz mehr Raum in meinem Gebet und merkte, dass die Wiederholung nicht langweilig, sondern vertiefend wirkte, dass mein Gebetsleben durch die Reduktion nicht ärmer, sondern lebendiger wurde. Das Wort rutschte sozusagen aus dem Kopf und dem Denken ins Spüren, ins Herz. Aus dem „Notruf“ wurde eine immer wiederkehrende Zuwendung. Das Gebet zeigte Wirkung; ich blieb dabei, ich vertiefte es und versuchte es zu verstetigen. Erst Jahre später lernte ich, dass ich diese Form des Betens nicht erfunden habe, sondern dass es eine uralte Tradition gibt, die man das Herzensgebet nennt.
Die klassischen Worte des Herzensgebets lauten: „Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich meiner“. Wegen dieser Anrede heißt es auch „Jesusgebet“. Nach und nach habe ich mich dieser Tradition[1] genähert und meine persönlichen Erfahrungen abgeglichen, erweitert und reflektiert. Bis heute praktiziere ich diese Form der Meditation und habe die Erfahrung gemacht, dass das Wort sich auch über die eigentliche Mediationszeit hinaus verselbständigt und anhaltend bleibt. Es „wohnt“ in meinem Herzen und hat von da aus Zugriff auf meine Haltung, mein Denken, meine Entscheidungen. Es wirkt also weit über die tägliche Zeit der Übung, des „Sitzens“ in der Stille, in den Alltag hinein.
Biblisch gesehen ist das Herz mehr als das körperliche Organ, das bestimmte lebenswichtige Funktionen erfüllt. Das Herz ist der Ort, an dem sich das menschliche Wesen konzentriert und bestimmt wird. Es ist der Ort des Sinnens und Bedenkens, des Betrachtens und Durchkauens. Es ist Ort der Wahrnehmung der eigenen Gefühle und des Mitfühlens mit anderen. Es ist der Ort, an dem Entscheidungen gefällt werden und an dem der Charakter eines Menschen geformt wird. Umgangssprachlich wissen wir das: Uns wird das Herz schwer, wir lieben eine Sache aus vollem Herzen oder lehnen sie ab, unser Herz zerbricht vor Kummer oder birst vor Glück …
Für mich ist das Herzensgebet eine Form der Verdichtung, der Konzentration. Alles Überflüssige, wird verabschiedet.[2] Die Kommunikation mit Gott wird gleichsam von Subjektivität gereinigt, von allem Geplapper und allen Ansprüchen, vom Eigendreh und Tanz ums goldene Kalb. Je nach meiner Verfassung können die gleichen Worte für flehentliche Bitte oder auch tiefe Dankbarkeit, Trauer oder fröhliche Freude und für vieles andere stehen. Sie sind immer Ausdruck meiner gegenwärtigen Haltung, meines Sehnens nach Begegnung mit Gott, nach dem Geborgenwerden in seiner Gegenwart. Letztlich kommt es nicht auf den Wortlaut an; die Worte werde nicht auf ihren Gehalt hin „bedacht“. Wie Maria möchte ich diese Worte „im Herzen bewegen“[3]. Immer wieder passiert es, dass die Worte im Gebet ganz zurücktreten und nur das schweigende Erlebnis der Nähe Gottes bleibt. Diese wunderbare Erfahrung kann ich nicht mit Tricks und nicht mit besonders viel Üben erzeugen, sie bleibt Geschenk. So ist das Herzensgebet eine Übung darin, zugleich ganz für Gott und sein Wirken offen zu sein und nichts zu erwarten.
Ich möchte im Gebet nicht bloß leer, sondern von Gott erfüllt werden. Auch das ist natürlich nicht machbar. Dennoch kann ich die Umstände günstig gestalten. Es hat sich bewährt, täglich etwa 20 bis 30 Minuten an einem dazu eingerichteten Platz zu üben und gelegentlich ein „Trainingslager“ zu besuchen – also einen Meditationskurs, Exerzitien oder Ähnliches.[4] Daneben ist aus meiner Sicht die regelmäßige Lektüre biblischer Texte notwendig. Damit meine Beziehung zu Gott lebendig bleibt und ich nicht abstumpfe oder meine Übung in Pflichterfüllung verflacht, ist es für mich erforderlich, mich immer wieder dem Wort Gottes auszusetzen – und damit auch der Reflektion meiner Person, meines Handelns und Stillhaltens, meines Gebets, meiner Erwartungen und meiner Überzeugungen auch in Bezug auf Gott. Gott als Gegenüber wahrzunehmen heißt ja auch, ihn als eigenständig, als außer-mir wahrzunehmen, er ist mehr als die Verlängerung meiner Wünsche oder Ideale, ja, ich verstehe das Gebet auch als Korrektiv meiner Wünsche und Ideale.
Es ist für mich trotz all den Jahren der Übung unmöglich, das Herzensgebet so zu beschreiben, wie ich es erlebe. Ich kann auch jemandem, der noch nie im Wasser war, nicht beschreiben, wie es sich anfühlt zu schwimmen. Meine Versuche können höchstens eine Annäherung sein und eine Einladung, es auszuprobieren. Und wie beim Schwimmen gilt auch hier: Es ist zwar nicht unmöglich, es sich alleine anzueignen, aber die Unterstützung eines/einer Lehrenden[5] ist ausgesprochen hilfreich und erspart vermutlich viel Frustration. Lehrende sind Mittler der Tradition, nicht Vermittler von Wissen. Das Unterrichten des Herzensgebets erfordert ein aufmerksames Hören auf die Übenden, deren Freiheit und Eigenverantwortung gewahrt werden. Es kann kein Klassenziel erreicht werden, kein Lernerfolg abgefragt, es bleibt ein Üben – insofern bleibt auch jede*r Lehrende zugleich Schüler*in.
Die Tradition des Herzensgebets birgt viele Schätze, die das „Sitzen“ – also die eigentliche Meditationszeit – einfacher und angenehmer machen. Theoretisch kann mensch zwar überall und jederzeit meditieren, aber bestimmte Voraussetzungen helfen in der Regel zur Ruhe und Vertiefung. Dabei spielt der Körper eine wichtige Rolle: Eine aufrechte Sitzhaltung und freier Fluss des Atems ermöglichen, innerlich Raum zu gewinnen. Dazu ist die Schulung der Aufmerksamkeit für den Körper hilfreich – wir nennen das „Körperarbeit“.[6] Ich versuche während des Sitzens die Aufmerksamkeit im Herz-Raum zu sammeln, der dabei nicht linkslastig (wie das Organ Herz) verstanden wird, sondern hinter dem unteren Bereich des Brustbeins in der Körpermitte zu erspüren ist. Aufmerksamkeit bedeutet also nicht Konzentration im Kopf, es geht nicht ums Denken oder Erkennen (auch wenn beides nicht ausgeschlossen ist), es geht um das Wahrnehmen der geschenkten Stille in mir, um die Bereitschaft, mich in meinem Innersten von Gott berührt zu lassen.
Es gibt viele Formen des Gebets, keine möchte ich abwerten. Auch ich praktiziere unterschiedliche Formen. Zum Beispiel sind mir liturgische Formen wie das Vaterunser oder der Lobpreis wichtig. Das Herzensgebet ist für mich die tragende Form, der Lebensmittelpunkt, das Lebens-Mittel. Ich möchte darauf nicht verzichten.
Nicol Kaminsky ist Pfarrerin i.R. der Ev. Kirche im Rheinland und leitete 12 Jahre lang das Haus der Stille in Rengsdorf/Neuwied.
Fußnoten:
[1] Vgl. dazu beispielsweise „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“, hg. und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg 2004.
[2] Vgl. Mt 6,7: „Wenn du betest, brauchst du nicht plappern …“.
[3] Vgl. Lk 2, 19.
[4] Es gibt zum Beispiel im „Haus der Stille“, dem Einkehr- und Meditationszentrum der Evangelischen Kirche im Rheinland, entsprechende Angebote.
[5] Als Einführung und für erste Selbstversuche verweise ich gerne auf Peter Köster: Die Übung des Herzensgebetes, Sankt Ottilien 2007 und Rüdiger Maschwitz: Das Herzensgebet, München 2015.
[6] In meinem Falle Eutonie, vgl. www.eutonie.de. Eutonie ist eine nicht ideologische Form der Körperarbeit, die von Gerda Alexander entwickelt wurde. Sie wird recht häufig in Meditationskursen oder „Stillen Tagen“ angeboten.