Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
NICHT ALLEIN auf dem Weg
Was Geistliche Begleitung ist und kann
von Alexandra Dierks
Ist Geistliche Begleitung ein Modethema? Keineswegs. Neu ist höchstens, dass es seit einigen Jahren ein fester Begriff ist, den man deshalb mit einem großen G schreibt. Alles andere gab es auch schon vor Jahrhunderten. Und es ist immer noch gut.
Als ich Theologie studierte, beginnend in den späten 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, hatte niemand, den ich kannte, einen „geistlichen Begleiter“. Es gab auch keine Fortbildungen, in denen man sich dazu ausbilden lassen konnte. Geistliche Begleitung war allenfalls etwas für Ordensleute oder andere geistliche Gemeinschaften. „Normale“ Christen wussten davon nichts.
Das hat sich inzwischen geändert. Zwar nimmt auch heutzutage nur eine Minderheit der Gemeindeglieder oder auch der Pfarrerinnen und Pfarrer regelmäßige Geistliche Begleitung in Anspruch, aber viele haben damit zumindest zeitweise Berührung, etwa bei Exerzitien oder Einkehrtagen. Die Hannoversche Landeskirche hat sogar vor einigen Jahren den Vikaren in der Ausbildung verpflichtend Geistliche Begleitung verordnet. (Ob andere Landeskirchen das ähnlich handhaben, entzieht sich meiner Kenntnis.) Es scheint ein zarter Trend zu sein, der mit dem zunehmenden Interesse an Spiritualität zusammenhängt. Und in den Orden und geistlichen Gemeinschaften gehört sie nach wie vor zum Leben dazu.
WAS IST GEISTLICHE BEGLEITUNG?
Geistliche Begleitung ist, was der Name besagt. Begleitung – also Mitgehen, nebenher gehen, gemeinsam ein Stück des Weges zurücklegen. Geistlich – es geht um das geistliche Leben, das Glaubensleben, die Beziehung zu Gott im eigenen Leben. Wenn ich mich geistlich begleiten lasse, dann teile ich mit einem anderen Menschen meinen Lebensweg als Glaubensweg, zumindest für eine Weile.
Geistliche Begleitung ist dabei nichts Neues. Als erstes wirklich greifbar wird sie bei den ägyptischen Wüstenvätern und -müttern des dritten und vierten Jahrhunderts, die selbst als Asketen lebten und von Christen aus den umliegenden Städten oder Dörfern aufgesucht und um Rat in Glaubens- und Lebensfragen gebeten wurden.1 Seitdem gibt es zu allen Zeiten und überall, wo es Christen gibt, Menschen, die von anderen aufgesucht werden, weil man sich von ihnen Rat und Zuspruch in Glaubensdingen erhofft. Oft sind es Mönche oder Nonnen, Eremiten, Mystiker, Starzen, die anderen auf ihrem Glaubensweg weiterhelfen. Manche dieser Begegnungen sind einmalig, aber es gibt auch länger andauernde Beziehungen, in denen regelmäßig Gespräche oder Briefwechsel stattfinden, z. B. im Pietismus in Deutschland, in der Oxford-Bewegung des 19. Jahrhunderts in England (unter dem Namen „spiritual direction“)2, in Hauskreisen und anderen Gruppen; überall, wo geistliches Leben bewusst und intensiv gelebt wird. 3
WORUM GEHT ES?
Um es etwas flapsig mit Douglas Adams zu sagen: um das Leben, das Universum und den ganzen Rest, allerdings unter geistlicher Perspektive. Die eigene Beziehung zu Gott wird reflektiert, bzw. das eigene Leben in Beziehung zu Gott betrachtet.
Ein Grundgedanke dabei ist der des Weges. Jeder Mensch ist auf dem Weg, äußerlich, biografisch auf seinem je eigenen Lebensweg, aber auch auf einem inneren Weg. Als Christen verstehen wir uns auf einem Weg mit Gott, und Gott ist auch das Ziel unseres Weges. In diesem Leben wird das Ziel selbst nie ganz erreicht, wenn sich auch immer wieder Augenblicke des Ewigen, Augenblicke der Wahrheit und des ewigen Lebens in der Nähe Gottes ereignen können.
Geistliche Begleitung will Hilfe auf diesem Weg sein. Der geistliche Begleiter, die geistliche Begleiterin ist selbst ebenfalls auf dem Weg mit Gott zu Gott, und er oder sie ist bereit, andere Menschen eine Wegstrecke lang zu begleiten und ihnen zu helfen, ihren je eigenen Weg zu reflektieren. Geistliche Begleitung ist das Angebot eines zweiten Blicks, der helfen kann, etwas zu erkennen, was man selbst von allein nicht sieht.
In der Regel lässt sich jemand, der anderen als geistlicher Begleiter dient, wiederum selbst geistlich begleiten. Denn auch das ist eine Grunderkenntnis des geistlichen Lebens: Niemand kommt allein voran, wir brauchen einander.
WIE GEHT ES KONKRET?
Geistliche Begleitung ist eine auf eine gewisse Dauer und Stetigkeit angelegte Zweierbeziehung. Man selbst sucht sich den/die Begleiter/in und verabredet in einem bestimmten Rhythmus Gespräche. Das kann monatlich oder alle drei Monate oder halbjährlich oder noch ganz anders sein, je nachdem, was gerade sinnvoll, nötig und möglich ist. Der regelmäßige Rhythmus ist kein Gesetz, sondern als Hilfe gedacht, vergleichbar mit regelmäßigen Terminen zur Massage oder Pediküre. Man leistet sich den Luxus, man gönnt sich das Geschenk der Seelenpflege und der Gottesbeziehungspflege. Erfahrungsgemäß wird unter Stress solcher Luxus als erster gestrichen – und damit das nicht so schnell passiert, wird er in regelmäßigen Terminen verankert.
Begleitbeziehungen gehen oft über Jahre. Aber auch dafür gibt es kein Gesetz. Es ist normal, dass sie nach einer Weile auch wieder enden.4 Manchmal wird empfohlen, mit der Begleitperson einen Vertrag zu schließen, z. B. zunächst über 6 Monate, und danach weiterzusehen. Solche Verabredungen können hilfreich sein, aber in der Regel merkt man auch ohne Vertrag, ob die Begleitbeziehung fruchtbar ist oder nicht.
In den Gesprächen kann alles zur Sprache kommen, was für den eigenen Lebens- und Glaubensweg relevant ist. Wie erlebe, wie erfahre ich Gott in meinem Leben? Oder erlebe ich ihn gerade gar nicht? Wie sieht mein Gebetsleben aus? Erfahre ich darin etwas von Gottes Wirklichkeit? Bin ich selbst darin wirklich? Tragen mich die Formen noch, die mich bisher getragen haben? Welche inneren Muster hindern mich? Was führt mich immer wieder in die Sünde? Die Gespräche mit dem Begleiter oder der Begleiterin wollen helfen, hier klarer zu sehen und die je eigene Antwort zu finden.
GEISTLICHE BEGLEITUNG, SEELSORGE, PSYCHOTHERAPIE
Naturgemäß ergeben sich Überschneidungen zwischen Geistlicher Begleitung und Seelsorge. Wo es um Gott, das Leben und den Glauben geht, ist das normal. In unserer heutigen kirchlichen Wirklichkeit ist Seelsorge allerdings meist anlassbezogen – eine Lebenskrise, ein Trauerfall, das Ende einer Beziehung erfordern seelsorgliche Zuwendung und Begleitung. Demgegenüber ist Geistliche Begleitung von Anlässen unabhängig (was sich an den regelmäßigen Rhythmen zeigt) und findet statt, auch wenn gerade „nichts passiert“. Gott ist ja nicht nur in Krisen und Brüchen gegenwärtig, sondern immer, also auch in den ruhigen Zeiten, auch wenn es uns gerade gut geht. So ergibt es sich erfahrungsgemäß, dass die geistliche Begleiterin auch als Seelsorgerin fungiert, wenn die Lage es erfordert, aber normalerweise ist geistliche Begleitung krisenunabhängig.
Es gibt hier keine Vorschrift der Exklusivität. Wer sich geistlich begleiten lässt, kann natürlich außerdem noch Psychotherapie in Anspruch nehmen oder ggf. Seelsorge durch eine weitere Person oder anderes, was als hilfreich empfunden wird. Die geistliche Begleitung dient zunächst und primär der Vertiefung der Gottesbeziehung, sie ist keine Form der Therapie. Menschen, die sich geistlich begleiten lassen, erleben allerdings häufig eine Art therapeutischen „Kollateralnutzen“, weil sie sich selbst „auf die Spur kommen“.
GEISTLICHE BEGLEITUNG UND BEICHTE
Wer ein intensives geistliches Leben lebt, entwickelt nicht selten eine erhöhte Sensibilität für innere Unstimmigkeiten, eigene Fehlhaltungen, schädliche Muster. Man kann auch klassisch von „Sündenbewusstsein“ sprechen. Damit wächst möglicherweise das Interesse an der Praxis der persönlichen Beichte.
Jahrhundertelang war das Hören der Beichte geweihten Priestern bzw. ordinierten Pfarrern (also Männern) vorbehalten. Das Charisma, Menschen auf ihrem Glaubensweg zu begleiten, unterlag demgegenüber nie solchen Beschränkungen; seit der frühen Kirche gab es immer wieder Frauen, die in dieser Weise von anderen in Anspruch genommen wurden, aber auch ungeweihte Mönche oder Einsiedler oder andere fromme „Laien“, die als geistliche Begleiter tätig waren. Traditionell gehörten Geistliche Begleitung und Beichte daher personell nicht zwingend zusammen. Heutzutage haben sich die Verhältnisse allerdings geändert: Im Protestantismus ist das Hören der Beichte und der Zuspruch der Absolution nicht mehr auf ordinierte Pfarrer beschränkt, und die Gruppe derer, die als Begleiter/innen oder Beichtväter bzw. -mütter in Frage kommen, ist erfahrungsgemäß nicht besonders groß. Insofern kann es sich ergeben, dass man den Begleiter auch gleich als Beichtvater in Anspruch nimmt und die Beichte gelegentlich oder sogar regelmäßig (z. B. in den kirchlichen Fastenzeiten) zum Bestandteil der Begleitbeziehung wird. Es kann aber auch sinnvoll sein, beide Bereiche personell und auch räumlich auseinanderzuhalten; die Wahrung des Beichtgeheimnisses ist nach wie vor eng mit der Ordination verbunden und wird staatlicherseits nur im Blick auf Ordinierte respektiert. Zudem empfiehlt es sich, sich jemanden zu suchen, der /die selbst „in der Beichte steht“, wie das so hübsch altmodisch heißt, was die Auswahl wiederum eingrenzt. Für Pfarrerinnen und Pfarrer, die sich geistlich begleiten lassen, gilt ergänzend die Empfehlung, sich möglichst eine Begleitung – und ggf. einen Beichtvater bzw. eine Beichtmutter – zu suchen, die räumlich und organisatorisch weit genug vom eigenen Tätigkeitsfeld entfernt ist, um niemanden in innere Konflikte zu stürzen.
GEFAHREN UND ZERRBILDER
Gerade im evangelischen Bereich gab und gibt es ein gewisses Misstrauen gegenüber Geistlicher Begleitung. Das Bild vom Weg kann missverstanden werden als Idee von Fortschritt, als müsste man immer besser, immer frömmer, immer heiliger werden. Die Erfahrung zeigt: Wenn es gut geht, erleben wir tatsächlich eine allmähliche innere Reifung, ein gewisses Erwachsenwerden im Glauben, die Überwindung des einen oder anderen schädlichen Verhaltensmusters, aber an Luthers fundamentaler Erkenntnis, dass wir grundsätzlich simul iustus et peccator, zugleich gerechtfertigt und Sünder sind, führt kein Weg vorbei.
Auch die Verbindung mit einer regelmäßigen Beichtpraxis wird manchmal misstrauisch beäugt. Herrscht da Zwang? Hat da jemand ungebührlich Macht über einen anderen? Wahr ist: Innerhalb der Begleitbeziehung gibt es ein gewisses Gefälle. Ich vertraue mich dem Begleiter an und gehe davon aus, dass sein Blick von außen etwas klarer sein wird als mein eigener. Und wenn ich gegenüber derselben Person in regelmäßigen Abständen beichte, wird sie natürlich gewisse Dinge über mich wissen, die sonst niemand weiß. Umso wichtiger, dass der gewählte Begleiter vertrauenswürdig und zu einer fruchtbaren Begleitung fähig ist.
WAS BRINGT GEISTLICHE BEGLEITUNG?
In der Geistlichen Begleitung ist es möglich, offen und ohne Maske über die eigene Beziehung zu Gott zu sprechen, über die eigenen Gotteserfahrungen, den eigenen Glauben und auch den eigenen Zweifel. Es ist möglich, sich alles von der Seele zu reden, aber auch, eigene verdrehte oder eingeschränkte Wahrnehmungen korrigieren zu lassen, in einem geschützten, absolut vertraulichen Rahmen.
Insbesondere Pfarrerinnen und Pfarrer, aber auch andere Menschen in Leitungspositionen sind oft von geistlicher Einsamkeit bedroht. Sie funktionieren gut im (Kirchen-)System, aber mit ihren eigenen Glaubensfragen, -entwicklungen und -krisen bleiben sie oft allein. Der Ehepartner ist persönlich zu nah dran für einen klärenden Blick, aber neben ihm gibt es niemanden, mit dem man so vertraulich reden könnte. Wer Geistliche Begleitung in Anspruch nimmt, hat damit einen Gesprächspartner, mit dem es ganz persönlich um Gott und den eigenen Glauben, die eigenen Zweifel, das eigene Gebetsleben gehen kann. Geistliche Begleitung bietet die Chance, das eigene Glaubensleben zu reflektieren und weiterzuentwickeln, und wenn es gut geht, setzt sie Impulse, die uns weiterbringen auf dem Weg in die Wahrheit Gottes. Wer selbst andere begleitet, macht die beglückende Erfahrung, Gott am Werke zu sehen, wie er im Leben einzelner Menschen wirkt, ruft, führt, heilt und immer wieder neue Möglichkeiten eröffnet. Sowohl begleitet zu werden als auch zu begleiten, ist ein Geschenk.
Dr. Alexandra Dierks, geboren 1968, ist Militärpfarrerin in Wunstorf.
1 Ihre Aussprüche sind z. B. nachzulesen in der Ausgabe von Erich Schweitzer: Apophthegmata Patrum I-III, Beuroner Kunstverlag 2012-2013.
2 Eine exzellente, kurze Darstellung der Entwicklung der „spiritual direction“ in der anglikanischen Kirche und zugleich eine gute Einführung in das Wesen der Geistlichen Begleitung liefert Peter Ball: Journey into Truth. Spiritual Direction in the Anglican Tradition, Mowbray, London 1996.
3 Vgl. André Louf: Die Gnade kann mehr. Geistliche Begleitung, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach 1995. 4 Vgl. Klemens Schaupp: Gott im Leben entdecken. Einführung in die geistliche Begleitung, Echter-Verlag, Kevelaer / München / u. a. 2006, S. 147-150 über den Abschluss der Begleitung.
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