Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2024_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Cannabis – mehr als ein sanftes Kräutlein
Die Legalisierung von Cannabis gehört zu den umstrittensten Gesetzen der letzten Jahre. Wie stichhaltig sind die Argumente dafür und dagegen? Eine persönliche Analyse.
Nein, ein Scherz war es nicht: Am 1. April 2024 trat das „Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis“ in Kraft. Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) erklärt dazu auf seiner Website: „Mit dem Cannabisgesetz wird der private Eigenanbau durch Erwachsene sowie der gemeinschaftliche, nicht-gewerbliche Eigenanbau von Cannabis in Anbauvereinigungen zum Eigenkonsum legalisiert.“
Im öffentlichen Raum sind 25 Gramm erlaubt, im eigenen Haushalt bis zu 50 Gramm. Mit dem Cannabisgesetz soll vor allem die Kriminalisierung der Nutzerinnen und Nutzer vermieden werden. Die Zahl der Delikte lag im Jahr 2020 bei deutlich über 200.000 – und hat sich damit innerhalb von 25 Jahren mehr als verdoppelt – 125.000 Strafverfahren wurden eingeleitet. Außerdem soll das Gesetz dazu dienen, die Schwarzmärkte auszutrocknen und dem Konsum von kontaminiertem Cannabis entgegenzuwirken. Das BMG schreibt weiter: „Die Verbesserung des Gesundheitsschutzes der Konsumentinnen und Konsumenten ist eines der Hauptziele des gesamten Vorhabens.“
Die Debatte während des Gesetzgebungsverfahrens war mehr als kontrovers. Nicht nur der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) meldete sich vehement zu Wort, wies auf die gesundheitlichen Gefahren für Jugendliche hin und sprach sich deutlich gegen die Freigabe aus, auch andere Fachleute aus Medizin und Justiz waren gegen das Gesetz.
An dieser Stelle kurz zu meiner Person: Ich bin Erzieher und Theologe, war Leiter einer Einrichtung für suchtkranke Jugendliche und bis 2023 politischer Beauftragter der Evangelischen Allianz am Deutschen Bundestag, die Debatte habe ich in Berlin aus nächster Nähe mitverfolgen können. Außerdem habe ich eine persönliche Suchtgeschichte.
In diesem Beitrag werde ich versuchen, ausgehend von persönlichen Erfahrungen, das Für und Wider der Legalisierung von Cannabis ein wenig zu beleuchten. Meiner Einschätzung nach gibt es sowohl für die Freigabe als auch für ein Verbot gute Argumente, in Summe bin ich – kleiner Spoiler – aber gegen eine Legalisierung.
Den Spot richte ich auf drei Szenen aus meinem eigenen Leben: Auf den Moment, als ich meinen ersten Joint geraucht habe, eine Erfahrung als Jugendschöffe und einen Besuch in der Jugendpsychiatrie.
Szene eins: Der Reiz des Verbotenen – nachts vor der Disco
Mann, war ich aufgeregt. Bruno hatte mit verschwörerischem Blick gefragt, ob ich mitkommen möchte: „Wir bauen uns einen …“ Ich war 16 und hatte noch nie gekifft. Ich trank viel – zu viel – und lebte ein unangepasstes Leben. Einen Joint zu rauchen würde alles toppen. Bruno und seine Clique waren die coolsten Jungs weit und breit – und ich durfte mitmachen. Natürlich sagte ich ja. Wir gingen über den Parkplatz und setzten uns mit drei anderen in einen rostigen VW Käfer. Bruno zog etwas Stanniolpapier aus der Tasche und wickelte einen Klumpen aus. „Grüner Türke“, flüsterte er. Mit geübten Händen bröselte er Haschischklümpchen ab, mischte sie mit Tabak und drehte aus drei Blättchen einen Joint. Er nahm einen tiefen Zug und ließ ihn kreisen. Ich kam als letzter an die Reihe, musste husten – die anderen lachten – und mir wurde schlecht, mehr spürte ich nicht. Aber das gab ich nicht zu, denn die anderen schwärmten von ihrem „Farben-Flash“, und ich fühlte mich auch so ziemlich cool: Immerhin machten wir hier was Verbotenes, wer traute sich das schon!
In den nächsten sechs Jahren kiffte ich regelmäßig, zwei- bis dreimal die Woche, zeitweise täglich. Es wurde zu einer Art Routine – wenn ich eine Weile verzichtete, machte sich eine nervöse Unruhe in mir breit. So richtig „geknallt“ haben Marihuana und Hasch selten, trotzdem konnte ich es nicht lassen. Auf der Suche nach dem Kick probierte ich Opium und LSD – und bin dem Himmel im Nachhinein dankbar, dass es in unserer abgelegenen Kleinstadt in Nordfriesland kein Heroin oder Kokain gab, zumindest nicht in meiner Szene. Es führt zu weit, hier meine ganze Suchtgeschichte zu schildern, nur so viel: Mit 20 kam eine Spielsucht dazu, mit 22 Jahren gelang mir der Ausstieg, nach einer einschneidenden Begegnung mit Gott und einer anschließenden Langzeittherapie in einem Haus der Arbeitsgemeinschaft christlicher Lebenshilfen (ACL).
Kann man aus dieser individuellen Erfahrung Allgemeines ableiten? Ein wenig schon, denke ich: Für mich lag der Reiz am Anfang vor allem darin, etwas Verbotenes zu tun. Hätte ich die Hände vom Kiffen gelassen, wenn es erlaubt gewesen wäre? Im Rückblick schwer zu sagen. Definitiv war es ein Tabubruch und ein Einstieg zum Konsum stärkerer Rauschmittel. Das war längst nicht bei jedem meiner Freunde so, aber ich kenne viele Drogenabhängige, für die Cannabis eine wichtige Rolle gespielt hat. Cannabis ist und bleibt eine Einstiegsdroge, auch wenn das immer wieder bestritten wird.
Offensichtlich hatte ich Entzugssymptome entwickelt. Auch war ich zwischen 16 und 22 Jahren von einer starken Antriebslosigkeit geprägt und bin mehrfach sitzen geblieben. Das Kiffen war nur ein Faktor – aber es war einer, und sicher kein kleiner. Der THC-Gehalt hat sich seit damals (1981) mehr als verdreifacht und die Konsumformen intensiviert (vom Joint zur „Bong“), das Suchtpotenzial hat sich ständig verstärkt. Wenn Politiker den gelegentlichen Joint aus ihrer Studentenzeit anführen, der „ihnen nicht geschadet“ habe, wie in den Debatten des Bundestags geschehen, geht das an der Realität vieler Konsumenten heute komplett vorbei: Im Jahr 2021 gab es laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) mindestens 50.572 ambulante Beratungen und Behandlungen wegen gesundheitlicher und sozialer Probleme mit Cannabis.
Wir wissen heute, dass Kiffen dem Gehirn, das erst mit etwa 20 Jahren voll ausgewachsen ist (das BMG spricht sogar von 25 Jahren), nachhaltig schaden kann: Konsumierende Jugendliche verfügten in Studien über eine geringere Impulskontrolle und konnten sich schlechter konzentrieren als andere Teenager. Je mehr Cannabis die jungen Probanden konsumiert hatten, desto ausgeprägter waren die Folgen. Insofern müsste eine medizinisch vertretbare Altersgrenze für die Legalisierung bei 21 (oder sogar bei 25) statt bei 18 Jahren liegen.
Szene zwei: Die Härte des Gesetzes – ein Kiffer vor dem Richterstuhl
Jugendschöffengericht Gera, 2001 (ich hatte inzwischen Erzieher gelernt und Theologie studiert, seit gut einem Jahr war ich ehrenamtlicher Richter). Der Angeklagte war ein 19-jähriger Mann, der wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) angeklagt wurde. Bereits zum dritten Mal war bei einer Kontrolle eine „geringe Menge“ Cannabis bei ihm gefunden worden (wenn ich mich recht erinnere, fünf Gramm). Der Richter plädierte für ein Strafverfahren, da der wiederholte Besitz ein Indiz dafür sei, dass der Beschuldigte dealte. Eine Verfolgung sei angezeigt – und auch notwendig für ein Umdenken des Beschuldigten. Die Jugendgerichtshilfe argumentierte dagegen, dass das Cannabis für den Selbstgebrauch gedacht war und eine Verurteilung und damit Kriminalisierung dem sozial instabilen Jugendlichen weiteren Schaden zufügen würde, sie warb für eine Einstellung des Verfahrens. Der Richter und wir beiden Schöffen einigten uns darauf, das Verfahren mit der Auflage einiger Sozialstunden einzustellen.
Schon damals erwogen wir am Einzelfall die Argumente, die heute immer wieder vorgetragen werden. Im Vordergrund stand die Frage: Was hilft dem jungen Mann? Der Jugendrichter war der Meinung, dass „ein ordentlicher Schuss vor den Bug“ eine bessere Wirkung zeigen würde als eine zu laxe Bestrafung. Doch führt eine Verurteilung wirklich zu diesem Ziel?
Die Perspektive der Sozialarbeiter ist eindeutig: Eine Vorstrafe kann Lebenswege verbauen in Bezug auf Schule, Ausbildung und Beruf. Sie kann zu einem sozialen Stigma führen, und damit zum Verlust von stabilisierenden Gruppen, wie etwa einem Sportverein. Die Angst vor der Stigmatisierung kann es deutlich erschweren, im Fall eines abhängigen Konsums nach Hilfe zu suchen. Aus der Sicht vieler Drogenberater werden Betroffene eher den Weg in eine Beratungsstelle finden, wenn sie sich damit nicht als kriminell zu erkennen geben müssen.
Wir stimmten dieser Perspektive weitestgehend zu. Mit Sozialstunden als Auflage hatten wir eine Option, den Angeklagten dennoch zu sanktionieren und damit ein Stoppzeichen zu setzen. Zugleich bekam er die Chance, eine potenziell sinnstiftende Arbeit kennenzulernen, was im frühen Stadium einer Suchtentwicklung wegweisend sein kann. Diese Möglichkeit fällt mit der Legalisierung zukünftig weg.
Eine zweite Frage schwang mit: Wie wenden wir Schaden von der Gesellschaft ab? Was, wenn er tatsächlich dealte und – insbesondere – für Minderjährige eine Gefahr darstellte? Würde eine Strafe ihn abschrecken? Dazu müsste man einen langen Exkurs über den Zweck des Strafrechts führen: Zielt es auf Bestrafung, Schadensausgleich, Abschreckung (und damit Prävention) – oder sogar „Besserung“ des Straftäters? Das führt an dieser Stelle zu weit. Wichtig ist aber zu wissen: Der Verkauf von Cannabis an Minderjährige bleibt weiterhin verboten und stellt eine Straftat dar.
Die Befürworter der Legalisierung führen an, dass ein straffreier Zugang zu Cannabis den Schwarzmarkt austrocknen könnte und damit für Jugendliche einen Schutz darstellt. Die Gegner dagegen erklären: Wo sich Geld verdienen lässt, werden legale Möglichkeiten ohnehin umgangen.
Ein weiterer Aspekt: Die Justiz ist mit der Vielzahl der Verfahren heillos überlastet. Häufig vergehen zwischen der Anzeige und dem Verfahren etliche Monate, und dann werden viele Verfahren eingestellt. Das ist weder aus Sicht des Staates (ökonomisch) sinnvoll, noch aus Sicht des Angeklagten. Eine Legalisierung kann den Freiraum schaffen, tatsächliche Vergehen (Cannabis im Straßenverkehr, Weitergabe an Minderjährige) schneller zu bearbeiten.
Ein letzter Gedanke an dieser Stelle: Häufig wurde argumentiert, dass Alkohol und Tabak, die noch schädlicher sind als Cannabis, auch verboten werden müssten (gute Idee, findet meine Frau …). Oder genau andersherum: Weil Alkohol und Tabak erlaubt sind, müsste das für Cannabis auch gelten. Richtig ist: Die Schäden durch Alkoholmissbrauch und Tabakkonsum in unserer Gesellschaft sind immens. Trotzdem hinkt dieses Argument, weil Suchtstoffe in ihrer unterschiedlichen Wirkung nicht vergleichbar sind. Vor allem aber hat jede Gesellschaft ihre geschichtlich gewachsenen Konventionen. Ein Verbot von Alkohol und Tabak wäre gesellschaftlich nicht akzeptiert und politisch nicht durchsetzbar, eine Aufhebung des Verbots von Cannabis dagegen war nicht zwingend. Generell gilt: Etwas zu legalisieren, weil anderes auch legal ist, würde bedeuten, einen Schaden nicht abzuwenden, nur weil etwas anders auch schädigt – das ist absurd.
Szene drei: In anderen Sphären – ein Besuch in der Jugendpsychiatrie
Markus war 17. Vor einem halben Jahr war er in die WG Rückersdorf, eine sozial-therapeutische Einrichtung der Jugendhilfe gezogen. Seit vier Jahren konsumierte er Cannabis, er schwänzte die Schule und dadurch wurde das Jugendamt auf ihn aufmerksam. Ein schüchterner, aber aufgeweckter Junge, der eine gute Entwicklung nahm. Bei einem Besuch im Elternhaus hatte er einen Rückfall, er rauchte mit Freunden einen Joint, und das löste einen psychotischen Schub aus. Markus wurde in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Damals, 2003, war ich Leiter der WG Rückersdorf. Ich besuchte Markus. Er erkannte mich nicht. Mehrfach sprach ich ihn an, ohne dass er eine erkennbare Reaktion zeigte. Dann plötzlich und unvermittelt fing er an zu sprechen, sein Blick ging weit an mir vorbei in eine Ferne, die nur er sehen konnte. Die Worte sprudelten aus ihm heraus: Wie wunderschön die Lichter seien auf diesem neuen Planeten, den er jetzt bewohne und wie alle Geschöpfe dasselbe Lied sangen und dabei immer heller leuchteten … Ich breche hier ab, weil ich die Situation nicht ins Lächerliche ziehen möchte, im Gegenteil: Sie war dramatisch, er hatte jeden Bezug zur Realität verloren. Markus blieb mehrere Monate in Behandlung und wurde medikamentös eingestellt, ganz erholt hat er sich nie.
Die Experten streiten sich: Gibt es tatsächlich drogeninduzierte Psychosen, oder werden psychotische Schübe durch halluzinogene Stoffe wie Cannabis nur verstärkt? Der Fall von Markus war eindeutig: Die Psychose begann nach dem Kiffen – wobei sie durch die Stresssituation im Elternhaus sicherlich begünstigt wurde.
Markus ist kein Einzelfall: Eine europaweite Studie von 20193 hat gezeigt, dass Menschen, die täglich Cannabis konsumieren, dreimal so häufig psychotische Schübe haben wie Nicht-Konsumenten, bei hohem THC-Gehalt sogar fünfmal höher. Insbesondere Teenager sind betroffen, bei ihnen ist auch das Risiko für Depressionen, Angststörungen und bipolare Störungen deutlich erhöht.
Nein, bei weitem nicht jeder Kiffer entwickelt psychische Störungen, und sehr häufig gibt es multiple Ursachen. Doch klar ist: Kiffen schadet der körperlichen und seelischen Gesundheit, insbesondere der von Kindern und Jugendlichen.
Dem Gesetzgeber ist das bewusst. Er hat einige Regelungen getroffen, etwa das Abgabeverbot an Minderjährige, die Begrenzung der Menge für 18 bis 21-jährige, ein Verbot des Konsums in der Nähe von Kitas, Schulen oder Jugendeinrichtungen. Als Präventionsmaßnahme wurde die Website infos-cannabis.de online gestellt. Doch können die „Hemmschwellen“ im Cannabisgesetz unsere Kinder wirklich schützen? Ich habe meine Zweifel. Das Narrativ, dass das Kiffen jetzt erlaubt ist, hat sich bei vielen Teenagern schon festgesetzt.
Fazit: Der Schaden ist groß – doch wie ihn begrenzen?
Die Zahlen zeigen deutlich: Die bisherige Regelung eines Cannabisverbotes hat es nicht vermocht, den Konsum zu begrenzen. Die Zahl der Suchtberatungen ist ebenso gestiegen wie die Zahl der Vergehen und Strafverfolgungen. Die Justiz ist heillos überfordert. Allerdings hat auch die sukzessive Legalisierung der vergangenen Jahre, die immer größere Mengen von Cannabis zum Eigenkonsum erlaubte, den Trend nicht umkehren können – warum sollte es eine vollständige Legalisierung vermögen?
Das stärkste Argument für eine Freigabe ist für mich, dass es der Kriminalisierung von Konsumenten entgegenwirken kann, das Votum von Sozialarbeitern und Drogenberatern ist hier ziemlich eindeutig. Die Argumente, dass der Schwarzmarkt ausgetrocknet werden oder dass eine Weitergabe an Minderjährige verhindert werden könnte, überzeugen mich nicht.
Am stärksten wiegt für mich aber der absehbare körperliche und psychische Schaden an Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Auch wenn wir noch nicht wissen, ob die Zahl dieser Fälle steigen werden, alleine die Möglichkeit, dass es geschehen könnte, klingt nach einem „Experiment am lebenden Objekt“ – und das darf nicht sein.
Was aber tun, wenn ein Verbot nicht wirkt, und eine Freigabe auch nicht? Resignation ist für mich keine Antwort. Immerhin geht es um unsere Kinder. Das Schlüsselwort ist und bleibt Prävention. Prävention als Aufklärung, aber vor allem als begleitende Sozialarbeit, als Angebot von Freizeitaktivitäten (gerne auch in der Schule), und anderes mehr. Da ließe sich noch viel mehr machen.
Uwe Heimowski (*1964) leitet Tearfund Deutschland, eine Organisation der Entwicklungszusammenarbeit. Er ist Autor zahlreicher Bücher, im Juni 2024 erschien das autobiografische Buch „Mit dem Leben spielt man nicht. Wie mein Glaube mich aus der Sucht befreite und ich eine zweite Chance bekam“ im SCM Verlag. Der Erzieher und Pastor lebt in Gera.