Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
SERIE: Mein besonderer Klient
Konstruktivismus und Käsekuchen
Erfahrenen Praktikern bei ihrer Arbeit über die Schulter schauen und an diesem Modell lernen, spirituelle Anliegen und psychotherapeutische Perspektiven miteinander ins Gespräch bringen – das ist die Zielsetzung unserer Rubrik. Besonders kann daran das Problem des Ratsuchenden, der Verlauf der Begegnung oder das methodische Vorgehen sein, egal ob das Setting nun Seelsorge, Beratung oder Psychotherapie heißt. Die Darstellung erfolgt in stark anonymisierter Form und / oder mit dem Einverständnis der Betroffenen. Im Mittelpunkt der Fallgeschichten steht der Hilfe suchende Mensch mit seinen existenziellen Herausforderungen und Glaubensfragen.
Ein helles Café
in Mainz. Hier habe ich an einem Treffen mit einem Seelsorgeteam teilgenommen. Nachdem sich das Team verabschiedet hat, beschließe ich, noch etwas zu bleiben. Neben mir liegt Arbeitsmaterial und das Buch von Peter Bukowski: „Humor in der Seelsorge“. Vertieft in eine Zeitung nehme ich aus dem Augenwinkel wahr, dass ein Mann beim Vorbeigehen neben meinem Tisch stehen bleibt. Er schaut auf das Buch. Dann schaut er auf mich.
„Das ist jetzt aber ein Zufall“, ruft er. Nach einem kurzen Gespräch stellt sich heraus, dass der Mann, der in Begleitung seines Sohns unterwegs ist, gerade von einem seelsorglichen Gespräch kommt. „Dieser Pfarrer hat meinen Sohn konfirmiert!“
Der Sohn, der hier Pit heißen soll, zeigt keine Reaktion. Er wirkt breit und düster.
Ich schaue Pit an. Er könnte mein Schüler sein, denke ich. Als Schulpfarrerin begleite ich manche Schülerinnen und Schüler über viele Jahre. Unter Begleitung verstehe ich das Angebot eines aufmerksamen Mitgehens: Menschen der Schulgemeinde finden bei ihrer Suchbewegung nach Selbstreflektivität und Tiefe in der Schulseelsorge eine „Oase“ – und so heißt auch unser Büro. Ich bringe den Glauben an Gott ins Gespräch: „Seelsorge geschieht immer auch im Vertrauen auf die für den konkreten Menschen relevante heilende Gegenwart Gottes.“1 Der gegenwärtige Gott aber ist der ganz Andere: Deshalb habe ich einiges übrig für überraschende Wendungen, die das Leben allgemein bereithält – und das Leben mit Gott im Besonderen.
Der Mann, der sich als Herr F. vorstellt, nimmt kurzerhand Platz, ebenso sein Sohn.
„Ich bin Ihnen sehr verbunden, wenn ich noch ein paar Gedanken mit Ihnen sortieren darf“, meint er. Ich unterbreche Herrn F: „Voraussetzung für ein Gespräch ist, dass ihr Sohn damit einverstanden ist.“ Herr F. sieht seinen Sohn an. „Alles klar, Pit?“ Und schon eilt Herr F. zur Kuchentheke. Geantwortet hat Pit auf die Frage seines Vaters nicht.
Während Pit mit einem schwarzen Filzer auf einen Leitz-Ordner kritzelt, lasse ich die Situation auf mich wirken. Das Ganze erinnert mich an Tür- und Angel-Beratungen:
Da spricht mich plötzlich eine Schülerin an und packt unvermittelt ein dickes Problem aus, etwa beim Verlassen des Klassenraums oder auf dem Parkplatz. Alltags-Seelsorge begrenzt sich eben nicht auf geschützte Räume, vielmehr ist das Hier und Jetzt einer spontanen Begegnung für eine ratsuchende Person bedeutsamer als ein vereinbartes Gespräch zu guten Konditionen. Als beratende Person ist es dann meine Aufgabe, die schlechten Konditionen zu akzeptieren und über den eigenen Schatten zu springen. So kann ein hohes Maß an Offenheit gewonnen werden. Ja, manchmal sind es die „schrägen“ Situationen, die es leichter machen, Dinge im Dialog geradezurücken. In diesem Fall allerdings mit einer Voraussetzung: Nur wenn Pit mitspielt, denke ich. Aber er wirkt verschlossen wie ein Schrank. Vielleicht ist dies das Problem?, überlege ich.
„Wie alt bist du?“, frage ich Pit. Ohne mich anzusehen, antwortete er: „16.“ Pause.
Pit kritzelt. Ich schaue zu. Der Filzstift malt blasser und blasser. Pit flucht. Ich suche in meiner Tasche nach einem anderen Filzstift. „Hier, nimm den“, sage ich.
Pit nimmt den Stift und kritzelt weiter. Wie kann in so einer Situation eine Grundhaltung der Annahme vermittelt werden?
Ich will Ratsuchende als junge Menschen mit eigenem Wert und eigener Würde sehen, als einmalige und unersetzbare Persönlichkeiten. Bedingungslose Annahme als wesentliches Merkmal von Seelsorge hat eine starke Analogie zur biblischen Rechtfertigungslehre, das ist klar. Unklar ist mir aber immer noch, ob sich Pit überhaupt als Ratsuchender versteht.
„Deinem Vater scheint es ziemlich wichtig zu sein, ein Problem anzusprechen“, sage ich.
„Aber was ist mit dir: Willst du überhaupt reden?“
Pit sieht mich genervt an: „Wieso sollte ich mit Ihnen reden? Ich kenne Sie doch gar nicht!“
Er schiebt den Filzstift in meine Richtung und verschränkt die Arme. „Das ist doch mal eine klare Ansage!“, kann ich gerade noch sagen, da ist Herr F. wieder zurück am Tisch – mit verlockendem Käsekuchen. Ich liebe Käsekuchen! Dennoch erkläre ich kurz, dass ich keine Grundlage für ein Gespräch sehe, wenn der Sohn damit nicht einverstanden ist. Dann beginne ich, meine Sachen zu packen.
„Sie wollen doch jetzt nicht gehen!“, ruft Herr F. bestürzt. Ich stehe auf und hole meinen Mantel.
Und dann passierte das ganz und gar Überraschende: Herr F. fängt an zu weinen.
Tränen rollen über sein Gesicht. Tränen in der Öffentlichkeit, ein unvermittelt deutlicher, wenn auch in diesem Fall wortloser Ausbruch starker Gefühle. Herr F. weint. Und ich setze mich wieder. Ich gehe bei meinen Beobachtungen in der Seelsorge von scheinbaren Übereinkünften aus, wie die Dinge wirklich sind. Und selbstverständlich wende ich als Maßstab aller Dinge meine eigene Sichtweise an. Wirklich ist, was ich höre, sehe, wahrnehme und was mir in einem Beratungsgespräch relevant erscheint. Theoretisch ist mir zwar klar, dass es die objektive Wirklichkeit nicht gibt, sondern nur eine vermutete, konstruierte Realität. Aber oft liege ich intuitiv mit meinen Vermutungen richtig. In der Begegnung mit Herrn F. und seinem Sohn aber lag ich eindeutig falsch.
Pit ist das Weinen seines Vaters unangenehm. Er verabschiedet sich, und weg ist er.
Zurück bleibt Herr F., der seine Tränen trocknet.
„Ich bin mit meiner neuen Rolle als Witwer noch nicht im Reinen“, sagt er leise.
Die Beisetzung seiner Frau liegt erst wenige Wochen zurück. Das seelsorgliche Gespräch hatte er bei dem Pfarrer, der die Beisetzung gehalten hat. „Für Pit ist das auch schwer“, sagt Herr F. „Aber darüber wollte ich nicht mit Ihnen reden. Das Problem bin ich. Ob ich je wieder lachen kann. Ihr Kollege konnte mir da nicht viel helfen. Aber Humor ist für mich Lebenselixier! Ich bin beim MCV aktiv, wenn Sie wissen, was das ist. (Es ist der Mainzer Karnevalsverein.) Und dann sah ich auf einmal Ihr Buch „Humor in der Seelsorge …“
Wir essen zusammen den Kuchen, und ich höre ihm zu. Ich schäme mich ein wenig, dass ich völlig fixiert darauf war, dass es um Pit gehen würde. Um Probleme, die ich aus der Schule kenne. Im schulischen Kontext frage ich Ratsuchende immer: Worum geht es? Eine thematische Klarheit ist wichtig. Diese Klarheit zeigte sich im Gespräch mit Herrn F. und seinem Sohn Pit erst allmählich. Zu stark war ich auf Pit fixiert und auf eine von mir konstruierte Realität. Dabei ist es so einfach: Niemand kann objektiv beobachten. Immer sind wir Teil der eigenen Beobachtung. Aber ich habe schon unangenehmere Lernerfahrungen gemacht.
Beim Verlassen des Cafés bin ich um eine Erfahrung reicher und um ein Buch ärmer: Peter Bukowskis „Humor in der Seelsorge“ wechselt ganz selbstverständlich seinen Besitzer. Es ist das Mindeste, was ich tun kann – für so herrlichen Käsekuchen.
Susanne Storck ist Pfarrerin der Ev. Kirche im Rheinland und seit vielen Jahren als Schulpfarrerin tätig. Sie lebt in Bad Kreuznach.
1Jürgen Ziemer: Seelsorgelehre, Göttingen 2000, S. 142.