Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2020_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Loslassen – ja. Aber wofür und wohin?
Von Esther Sühling
Alle preisen das Loslassen, fordern das Loslassen, üben sich angeblich im Loslassen. Ganz so, als sei das Loslassen ein Wert an sich. Stimmt das denn? Über Blickrichtungen, die drei Sinnebenen unseres Lebens und zwei Jesus-Zitate, die wir oft missverstehen.
Sie will einfach nicht loslassen.“ – „Ich kann noch nicht loslassen.“ – „Lass doch einfach los!“ Feststellungen oder Ratschläge wie diese hört man häufig – und viele, die sie hören, stimmen automatisch zu. Offenbar ist Loslassen das Ziel. Wofür oder wohin ich loslasse – dieser Blick fehlt. Dabei darf das Loslassen nicht isoliert betrachtet, sondern in einen größeren Zusammenhang gestellt werden. Ich möchte das mit Blick auf zwei Themenbereiche tun: Tod und Sterben und das sogenannte Empty-Nest-Syndrom.
Tod und Sterben
Als sich für eine alte Dame das Ende des Lebens näherte, bat sie ihren Pfarrer: „Bitte, wenn ich sterbe und die Menschen zu meinem Sarg kommen, möchte ich eine Gabel in der Hand halten.“ Der Pfarrer war erstaunt: „Eine Gabel, wieso eine Gabel? Wieso kein Kreuz, Sie sind doch so gläubig?“ – „Wissen Sie“, antwortete die Frau, „wenn ich irgendwo zum Essen eingeladen bin, und nach einem Gang heißt es: Die Gabel können Sie behalten, dann weiß ich: Das Beste kommt noch!“
In dieser Geschichte, die ich Menschen gerne erzähle, wird die Frau am Ende in Frieden sterben. Aber: Sie lässt nicht los. Sie nimmt etwas mit. Eine Gabel, die sie im Jenseits nicht braucht, aber die ihr und anderen Menschen Mut macht: Es gibt etwas, worauf sie sich freuen kann.
Im Matthäusevangelium (6,20f.) lesen wir: „Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo weder Motten noch Rost sie fressen und wo Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“
Auch Jesus empfiehlt, etwas zu sammeln – im Himmel bzw. für den Himmel. Er empfiehlt nicht, alles loszulassen. Bei uns hier sieht es aber häufig so aus, dass Sterbenden gesagt wird: „Du darfst loslassen. Du darfst jetzt gehen.“ Ein Wozu oder Wofür, ein Wohin fehlt häufig in dieser Empfehlung.
Bezüglich des Loslassens beziehen sich viele auf den Buddhismus, der darauf zielt, sich von den Anhaftungen an das Leid zu lösen.2 Aber auch dort ist dies nur ein Teilbereich: Sich von den Anhaftungen an das Leid zu lösen, hat letztendlich das Ziel, zur Erleuchtung zu gelangen. Idealerweise durchbricht man so nach dem Tod den Kreislauf der Widergeburt (samsara) und gelangt ins Nirwana. Es ist ein immerwährender Übungsweg.
Einige Christen beziehen sich beim Thema Loslassen auf Jesus, der bekanntlich sagte, man solle sein Leben „verlieren“, also loslassen. „Wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s behalten“ (Mk 8,35 und par.). Hier und auch in anderen Stellen wird das Loslassen aber nicht als Selbstzweck gefordert oder empfohlen, sondern ist an einen Inhalt oder Zweck geknüpft: „um meinetwillen“.
Loslassen kommt im deutschen Sprachraum von „Gelassenheit“, einem Wort, das sich zuerst bei Meister Eckhart (1260- 1328) findet: „Gelazenheit“ ist ein zentraler Begriff seiner Mystik. Wir sollen lassen, damit wir die Einheit mit Gott erreichen, die unio mystica. Auch hier wird also das Wort „lassen“ mit einem Wozu und Wohin, mit einem Ziel und dabei auch mit einem spirituellen Übungsweg verknüpft.
Im Alltag aber gilt das Loslassen an sich als Wert und wird eingefordert. Es sei „eigentlich“ ganz leicht, man muss ja nur „einfach loslassen“, so die Vorstellung, die aber nicht die Realität trifft.
„Wir haben alles getan, alle Verwandten waren da, aber er kann immer noch nicht loslassen“, erzählt eine Patientin mit einer sehr schwierigen Vaterbeziehung. Letzens habe sie ihm ins Ohr geflüstert: „Papa, lass los, du darfst gehen, es ist alles gut.“
Der Sterbeprozess ist für jeden Menschen einmalig und in meinen Augen kostbar. Wird man ihm mit „Lass doch los“ gerecht? An was hält der Mensch denn fest? Und wenn es das Leben hier auf dieser Erde sein sollte – darf das nicht sein? Leben bedeutet doch gerade in Verbindung, in Beziehung sein. Und es bedeutet Veränderung. Vielleicht zeugt der Rat an die Sterbenden, „endlich einfach loszulassen“, manchmal nur von der eigenen Überforderung oder Hilflosigkeit. Aber er ist m. E. auch eine Anmaßung. Ein Sterbeprozess braucht seine Zeit, und er wird sicher nicht durch Ratschläge beschleunigt. Wohin und wofür der Sterbende loslassen soll, das wird nicht gesagt – und es wäre ja auch übergriffig. Der Ratgebende weiß meist nicht, was die „Gabel“ für den Sterbenden ist. Das Wofür und Wohin kommt eben nicht aus der Spiritualität oder dem Glauben des Begleiters, sondern aus dem inneren, tiefen, auch intimen Glauben des Sterbenden, der sich von dem des Begleiters immer auch unterscheidet.
„Bemerkenswert ist, dass immer nur das Dunkle, Trübe, Schwere losgelassen werden soll, nie hat man einem Schwerstkranken raten gehört, dass er doch endlich einmal Freude, Glück und Hoffnung loslassen soll. Diese Einseitigkeit zeigt bereits, dass Loslassen den Menschen nicht zu seiner Ganzheit und Identität führen kann, weil es nur teilweise geschieht“, schreibt Monika Müller.
Statt Loslassen scheint mir das Zulassen am Ende des Lebens wichtig zu sein. Zulassen bedeutet, das Leben zu rekapitulieren, sich dessen zu erinnern, was kostbar war und was schwierig; ganz so sein zu dürfen, wie man ist, und sich vorzubereiten auf das, was kommt; sich zu vergegenwärtigen, was wirklich gezählt hat, nochmal bewusst Schätze im Himmel wahrzunehmen und vieles mehr.
Viele Angehörige wünschen dem Sterbenden, „heil“, „ganz“, „versöhnt“ hinüberzugehen. Rituale der Religionsgemeinschaften wie Gebet, Segnung und Krankensalbung oder eine Hospizbegleitung sollen dem Sterbenden dabei helfen. Die Angehörigen selbst können präsent sein, sie können vielleicht mit dem Sterbenden beten, sie können ihn / sie aushalten, sie können vielleicht auch etwas von ihrem eigenen Leben erzählen, sie können ihn oder sie noch einmal Geschichten erzählen lassen, vielleicht wollen sie auch etwas klären, etwas aussprechen. Sie können ihn / sie lassen in seinem / ihrem Prozess. Den anderen bei seinem Hinübergehen zu begleiten, ist keine leichte Aufgabe, und oft gelingt es weder dem Sterbenden noch dem Angehörigen in idealer Weise.
Aber auch für die Hinterbliebenen ist das Loslassen als einzige Empfehlung m. E. der falsche Weg.
Eine verzweifelte Patientin sagte mir einmal: „Meine Tochter ist vor über einem Jahr von uns gegangen. Viele Menschen sagen mir, ich solle doch mit dem Trauern aufhören und sie loslassen. Aber ich kann sie doch nicht einfach vergessen, ich kann doch nicht so tun, als wäre unsere gemeinsame Zeit unwichtig. Ich vermisse sie so.“ Diese Frau hatte „loslassen“ so verstanden, dass dann alles, was sie mir ihrer Tochter verbunden hatte, wertlos und nutzlos würde, ja, dass sie sogar die Tochter vergessen solle.
Eine andere Patientin sagte mir, ebenfalls in Not: „Ich habe meinen Mann so geliebt. Wenn ich ihn loslasse, heißt es doch, dass ich ihn vergesse.“
Meiner Erfahrung nach sind dies keine Einzelfälle. Viele Hinterbliebene assoziieren das Loslassen mit „fallenlassen“, „aufgeben“, ja mit „vergessen“.
Beim Trauerprozess geht es nicht darum zu vergessen. Es geht darum, für den Verstorbenen einen anderen Platz im eigenen Herzen zu finden, die Beziehung, die Bindung zu (ver-)wandeln. Sich dem Leben wieder zuzuwenden.
Wenn Kinder aus dem Haus gehen
Das zweite große Thema, zu dem wir den Ratschlag des Loslassens hören, ist das sog. Empty-Nest-Syndrom. Eltern, meist Mütter, fühlen sich verloren, nachdem ein Kind / die Kinder aus dem Haus gegangen sind. Viele Mütter, die unter der neuen Einsamkeit leiden, sagen mir in der Therapie: „Ich weiß, ich muss mein Kind loslassen – aber ich kann es nicht.“
„Was beinhaltet denn das Loslassen für Sie?“, frage ich dann häufig. Als Antworten werden genannt: sich nicht mehr um die Kinder sorgen, weniger häufig anrufen, das neue Umfeld akzeptieren, realisieren, dass die Kinder nicht mehr so auf die Hilfe und den Rat der Eltern angewiesen sind. Und dann wird die Angst vor Leere und Sinnlosigkeit genannt.
Die Assoziationen zum Wort „Loslassen“ sind beim Empty- Nest-Syndrom nicht das Fallenlassen oder Vergessen des anderen wie beim Thema Sterben, sondern die Angst vor der eigenen Nutzlosigkeit und vor dem Überflüssig-Sein, vor dem Nicht- Mehr-Gebraucht-Werden; dass der Sinn, den zu erfüllen lange das Wichtigste im Leben war, nämlich ganz für die Kinder da zu sein, nun verloren gegeben werden muss.
Eltern zu sein ist eine der größten Herausforderungen, die es im Leben zu meistern gilt. Denn in der Beziehung zu Kindern kann man sich nie auf einen Ist-Zustand einstellen. Schon bei der Geburt müssen Mütter die Kinder nicht nur loslassen, sondern sie quasi hinauswerfen aus dem Nest; die Nabelschnur wird nicht losgelassen, sondern gewaltsam und fachkundig durchtrennt, damit beide leben können. Vom ersten Tag an gehört nicht nur die Fürsorge, sondern auch das Schubsen, das Hinauspressen zum Muttersein. Von da an brauchen die Kinder tagein, tagaus die Fürsorge der Eltern, andererseits wollen und sollen sie unabhängig und selbstständig werden. Sie müssen von der Brust entwöhnt werden, sich selber waschen und anziehen, selber zur Schule gehen, selber Hausaufgaben machen … Sie brauchen ihre Eltern immer weniger, und das ist gut so. Wenn Kinder sich zu sehr oder zu lange an die Eltern klammern (oder umgekehrt), ist das für beide ungesund. Dann ist es die elterliche Aufgabe, von den Kindern Selbstständigkeit aktiv einzufordern, nicht nur, sie „loszulassen“. Die Beziehung zu den Kindern muss sich weiter wandeln, und auch hier geht es nicht um Festhalten oder Loslassen, nicht um ein Entweder – Oder, sondern um Entwicklung, um einen Prozess. Und der hört nicht mit dem Auszug der Kinder auf. Auch danach besteht die Beziehung weiter – mit Kindern, die erwachsen sind und ihr eigenes Leben leben, von dem die Eltern durchaus ein Teil sind.
Kinder stehen oft im Mittelpunkt des Lebens ihrer Eltern, geben ihnen Lebenssinn. Wenn diese Aufgabe, dieser Sinn mit dem Auszug der Kinder verloren geht, kann dies die Eltern in eine Krise stürzen, das Empty-Nest-Syndrom, das sich bis zu einer manifesten Depression weiterentwickeln kann. Bei Frauen kommen häufig noch die Veränderungen durch die Wechseljahre hinzu, bei Männern womöglich eine Midlife-Crisis. Und zu dem Schmerz, für die Kinder nicht mehr wichtig zu sein, tritt die Frage: War das alles? Was ist der Sinn in meinem Leben? Oder, anders formuliert: Wofür und wohin soll ich loslassen?
Wie kann mit diesem Sinnverlust umgegangen werden? Die Haltung: „Ich tue jetzt nur noch das, was ich wirklich will: Ich entspanne, ruhe mich aus, gönne mir was“, funktioniert nicht auf Dauer. Sinn ist nämlich nicht gleich Sinn im Leben. In diesem Zusammenhang bin ich zur Unterscheidung von drei Sinnebenen gelangt:
- Das Ziel im Leben
Beispiele: Menschen helfen; Jesus nachfolgen; zur Erleuchtung gelangen; heilsam wirken; reich werden; ganz werden; berühmt werden; das Leben genießen … (Die Lebensziele sollen ohne Wertung als Beispiele dienen.) - Die Aufgabe, mit der ich dieses Lebensziel umsetze
Beispiele: eine gute Schülerin sein; einen Beruf finden und ausfüllen; den Ruhestand sinnvoll gestalten; eigene oder andere Kinder großziehen, sich im Tierschutz engagieren, Gottes Wort verkünden, künstlerisch tätig sein, Klimaschutz fördern … (NB: Dieser Sinn ändert sich im Laufe des Lebens.) - Der Alltagssinn:
präsent sein, im Hier und Jetzt leben, mit allen Sinnen genießen; da sein; meditieren, gut für sich selber sorgen; die anderen und sich selbst lieben
Alle diese drei „Sinne“ sind wichtig für den Menschen. Wenn auf einer Ebene der Sinn fehlt, kann dieser nicht einfach durch andere Bereiche ersetzt werden, d. h., wenn auf der zweiten Ebene der Sinn fehlt (wenn die Kinder aus dem Hause sind oder beim Eintritt in den Ruhestand) kann diese fehlende Ebene nicht auf Dauer z. B. durch die dritte Sinnebene ausgeglichen werden: im Hier und Jetzt leben, genießen, ausspannen. Dann wird eine neue Aufgabe, ein neuer Sinn auf der zweiten Ebene benötigt. Ihn zu finden ist neben der prozesshaften Veränderung der Beziehung zu den Kindern ein wichtiger Teil der Behandlung des Empty-Nest-Syndroms.
In diesem Zusammenhang hat mich die Geschichte von Elsa Brändström (1888-1948) beeindruckt, einer schwedischen Krankenschwester, die sich im Ersten Weltkrieg um deutsche Kriegsgefangene in Russland kümmerte und „der Engel von Sibirien“ genannt wurde. Als der Krieg zu Ende war und der Völkerbund 1920 die Heimkehr der Kriegsgefangenen organisiert hatte, wurde Elsa Brändström depressiv. Sie hatte ihre Aufgabe verloren. Ihre Depression verschwand, als sie eine neue Aufgabe fand: den Aufbau von Schulen und Waisenhäusern für deutsche Kriegskinder.
Menschen können meiner Erfahrung nach nur Ja zur Veränderung sagen, wenn sie wissen, wohin und wofür sie das Alte hinter sich lassen sollen oder müssen. Der Rat „einfach loszulassen“ greift deshalb zu kurz. Es geht darum, Perspektiven zu gewinnen, also
a) um das Wofür und Wozu des Loslassens und
b) um das Zulassen, Sich-Wandeln, den Prozess des Lebendigen. Das Loslassen kann ein Bestandteil des Prozesses sein, er ist jedoch sicherlich weder der einzige noch der wichtigste.
Wenn Jesus sagt: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lk 9,26), geht es nicht darum, den Pflug loszulassen, sondern darum, in welche Richtung man schaut. Deshalb ermutige ich meine Patient*innen, mit allen ihren Fähigkeiten und Kenntnissen die Furche gerade zu ziehen, ihren „drei Sinnen“ nachzugehen und auf die Schätze zu schauen, die sie in der Tiefe ihres Selbst und im Himmelreich sammeln.
Anmerkung: Diesen Artikel habe ich während der Coronakrise geschrieben. Die Kontaktreduktion, das Loslassen von Gewohnheiten, ja sogar von Menschenrechten für eine bestimmte Zeit wurde von der Bevölkerung getragen, weil das Warum und Wofür klar war: der Schutz von Menschen. Seit Ende April kam es zu langsamen Öffnungen, und es stieg die Unsicherheit. Das Warum und Wofür war nicht mehr allen klar, und die Ängste stiegen. Wenn Sie den Artikel lesen, ist die Entwicklung in die eine oder andere Richtung fortgeschritten, hoffentlich zum Heilsamen.
Dr. med. Esther Sühling, geboren 1963, arbeitet als Psychiaterin und Psychotherapeutin in eigener Praxis in Laer / Münsterland. Daneben ist sie Prädikantin, geistliche Begleiterin und Meditationsbegleiterin (VIA CORDIS). www.gottimalltag.de