Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_1) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
„Nazimütter?“ Anregungen zur Dekonstruktion
von Renate Kersten
Wer ist schuld? – Immer die Mutter. Diese – zugegebenermaßen überspitzte – These ist
keine Erfindung der psychoanalysefreudigen Siebzigerjahre.
Sie findet sich implizit schon in einem der meistverbreiteten
Erziehungsratgeber aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Jahrzehntelang ein
Bestseller, prägte dieses Buch nicht nur den Umgang mit Säuglingen
und Kleinkindern, es zementierte auch ein Mutterbild, das bis heute nachwirkt.
Kalte Nazimütter“ lautet das Stichwort für diesen Artikel. Das Kopfkino springt an und zeigt Frauen zwischen Rabenmutter und Hexe, unterkühlt, lieblos, verbiestert, brutal. Diese Sicht verbindet sich mit einer Anspruchsmentalität Müttern gegenüber, die ich immer noch vorfinde: Muttersein ist Leistungssport, und die Latte liegt immer zu hoch. Im Zweifelsfall war es immer die Mutter, die versagt hat, wenn das Kind versagt. Eine Mutter darf bis heute nicht einfach sein, wie sie ist, mit ihren Möglichkeiten, Gaben und Schwächen. Wie sie geworden ist, glücklich, enttäuscht, traumatisiert, resilient, mit dem, was ihr in ihrer Geschichte widerfahren ist, auch mit Schuld und Scham und Schweigen.
Im Mittelpunkt einer Reihe von Aufsätzen und Büchern zum Stichwort steht Johanna Haarers folgenreiches Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“1. Es wurde ebenso folgenreich in Sigrid Chamberlains „Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“2 mit dem Fazit gedeutet, „Nazimütter“ seien ihren Kindern konsequent mit emotionaler Kälte begegnet, und dies habe für eine ganze Generation zu Bindungsstörungen geführt. Hier werden Konzepte und Realität des NS-Staates einbezogen, nicht jedoch wirtschaftliche und technische Lebensumstände, Mentalitäten und die Tatsache, dass Mütter und Kinder immer in einem weiten Geflecht von Beziehungen und normierenden Vorstellungen leben.
Jede Frau ist Mutter
Muttersein ist von Anfang an, also während Mädchen aufwachsen, die später zu Müttern werden, von familiären, gesellschaftlichen und staatlichen Erwartungen geprägt. Wie sehr die jeweilige Zeit prägt, fällt erst in der Differenz auf. Einige Beispiele:
Jahrhundertelang war es üblich, dass längst nicht jede Mutter selbst stillte. Nach der Hebamme kam die Amme, und danach kamen andere, die für die Kinder sorgten. In vielen begüterten Familien war deren Bindung an das Erziehungspersonal weit inniger als an die leiblichen Eltern; in manchen Familien war dies noch Anfang des 20. Jahrhunderts so. Auf der anderen Seite gaben Kinderreichere innerhalb der weiteren Familie Kinderlosen ein oder mehrere Kinder ab.3 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden Kinder in vielen Fällen zeitweise in Kinder- und Säuglingsheime gegeben, wenn räumliche oder soziale Verhältnisse ungünstig waren. Gesellschaftlich wurde dagegen vom Kinderbuch bis zur Werbung das Bild glücklicher Familien mit der Mutter als wärmendem Mittelpunkt gepflegt. Was Anfang des letzten Jahrhunderts Sehnsuchtsbild vieler war, wird heute gern mit Realität verwechselt.
Über Jahrhunderte hinweg war Mutterschaft die einzige Karriereoption für Frauen. Das „Hausmutterbüchlein“ von 1954 stellt klar, dass dies auch im 20. Jahrhundert gilt: „Und jede Frau darf Mutter sein, auch für Menschen, die sie nicht geboren hat.“4 Dass Frauenleben sich nur im Muttersein erfüllen könne, war fraglos. Dazu genügte es nun allerdings nicht mehr, einen Stammhalter zu gebären und die Hauswirtschaft zu ordnen. Das Bild der Mutter war spätromantisch angereichert mit dem Anspruch auf beseelte Mütterlichkeit. Frauen in Sozialberufen blieben innerhalb dieses Vorstellungsrahmens: Krankenschwestern, Fürsorgerinnen (später Sozialarbeiterinnen), sogar Ministerinnen für Frauen, Familie und Soziales galten als in mütterlicher Weise weiblich. Wenn eine Frau jedoch die Ehe einging, solle sie ihrem „Hauptamt als Frau und Mutter“ genügen und, sofern das von ihr erwirtschaftete Einkommen zum Erhalt der Familie nicht notwendig sei, auf Erwerbstätigkeit verzichten.5 Eine Frau der so geprägten Generationen, die nicht aus reiner Not erwerbstätig war, stand damit gesellschaftlich und z. T. auch rechtlich vor der Wahl, einem oft sehr geliebten Beruf nachzugehen oder einen geliebten Mann zu heiraten und Mutter zu werden.
Dr. Johanna Haarer –
Ärztin, Mutter, Autorin
Johanna Haarer (1900–1988) wuchs kleinbürgerlich auf. Innerhalb ihrer Familie erkämpfte sie sich das Abitur, schloss dann ein Medizinstudium mit Promotion ab und arbeitete als Lungenfachärztin. Eine erste, kinderlose Ehe mit einem Kollegen scheiterte. 1932 heiratete sie ein zweites Mal, wieder einen Arzt. Im selben Jahr hatte der Reichstag ein Gesetz gegen „Doppelverdiener“ verabschiedet: Waren beide Eheleute im öffentlichen Dienst beschäftigt, sollte der Frau gekündigt werden. Johanna Haarer gebar im Januar 1933 Zwillinge und beendete ihre Tätigkeit als Klinikärztin. Im selben Jahr begann sie, Säuglingspflege- und Erziehungstipps in der NS-Tageszeitung „Völkischer Beobachter“ zu veröffentlichen. Die einzelnen Artikel bildeten den Grundstein des Buches „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“.
Haarer war überzeugte Nationalsozialistin. 1935 wurde sie, in München ansässig, ehrenamtliche Gau-Sachbearbeiterin für Rassepolitik in der Nationalsozialistischen Frauenschaft. Die Ideologie gab Haarers Mutterdasein einen über die Familie hinausgehenden Sinn: Frauen wurden an die „Gebärfront“ und zur „Geburtenschlacht“ gerufen, da das Volk zum Selbsterhalt Nachwuchs ebenso nötig brauche wie den Kampf der Soldaten. Haarer selbst bekam zwischen 1932 und 1943 fünf Kinder. Sie veröffentlichte weiter, u. a. „Mutter, erzähl mir von Adolf Hitler“ und das Buch „Unsere kleinen Kinder“. Sie unterrichtete junge Frauen auf den Mütterschulen und konzipierte Schulungsmaterial für Multiplikatorinnen.
Nach dem Krieg war Johanna Haarer 1945 und 46 zweimal in der amerikanischen Besatzungszone interniert. Während der zweiten Internierung nahm ihr Mann sich das Leben. Haarer arbeitete schon im Lager wieder als Ärztin. Danach war sie Alleinverdienerin. Zu ihrer Unterstützung arbeiteten zuerst ihre Eltern, später eine Haushälterin im Hause Haarer mit.
Haushalt und Kinder
zum Funktionieren bringen
Haushaltsführung und Sorge für Kinder waren Müttersache. Im 19. Jahrhundert waren Dienstboten zur Unterstützung weit verbreitet. Dies änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg: Haushaltshilfe in größerem Umfang war nur für wenige bezahlbar. Bis in die 1960er-Jahre gab es jedoch kaum elektrische Haushaltstechnik. Johanna Haarers Ratgeber sind aus dieser Situation heraus geschrieben. „Hat die Mutter das Glück, sich ausschließlich ihrem Hauswesen und ihrer Familie widmen zu können, so wird sie den Anforderungen des größeren Kindes gerecht werden können, wenn sie es nur versteht, ihren Tag richtig einzuteilen. Aber wie viele Frauen sind nicht in dieser Lage! Sie haben außer Hauses noch Pflichten in Geschäft, Büro, Fabrik oder Landwirtschaft. Für sie wird jetzt die Frage dringlich, wie man es denn nun mit dem Kinde einzurichten habe. Die Verfasserin kennt dies sehr gut aus eigener Erfahrung. Sie war, als sie sich vor ihrer ersten Entbindung aus einem sonst ausgezeichneten Buch über alle einschlägigen Fragen nochmals unterrichten wollte, nicht wenig erstaunt, diese Schwierigkeiten mit dem einfachen Satz gelöst zu finden: ‚Die übrige Zeit verbringt das Kind auf dem Schoße der Mutter oder Pflegerin.‘“6 Haarer wollte zeigen: Muttersein ist auch unter modernen Bedingungen möglich. Sie war keine Pädagogin, sondern Verfechterin des „gesunden Menschenverstandes“. Dies trifft auch darauf zu, dass sie weder vom schlichten Vorhandensein noch von verantwortungsvoller Mitwirkung eines Ehemanns und Vaters ausgeht: Väter sind kriegsbedingt nicht immer vorhanden, uneheliche Geburten kommen vor. Mütter müssen mit dem Gegebenen klarkommen. Die Rolle der Mutter ist die der verantwortlichen Familienmanagerin, oft ohne weitere Unterstützung.
Haarer gab neben medizinischem Grundwissen und praktischen Empfehlungen zum Wickeln, Stillen, der Erstausstattung für Neugeborene etc. die Grundsätze weiter, nach denen sie selbst erzogen war. Sie übersetzte die auch im Nationalsozialismus tief verankerte Überzeugung in die Säuglingspflege, dass sich, was richtig sei, durch überlegte und effiziente Organisation und Konsequenz in der Einhaltung von Regeln erzwingen lasse.
Haarer imaginierte eine Mutter, die im häuslichen Bereich in jeder Situation die Kontrolle behält. Die Methode der Wahl, um kindlichen Gehorsam zu erzwingen, ist nach Haarer nicht körperliche Gewalt. Sie erwähnt in ihren Lebenserinnerungen „dass ich niemals geschlagen worden bin, auch nie nur eine Ohrfeige bekommen habe. Die Strafe meiner Mutter bestand darin, dass sie nicht mehr mit mir sprach, ich war Luft für sie, sie ignorierte mich völlig. Heute nennt man so etwas ‚Liebesentzug‘ und es ist streng verpönt, in der Erziehung und der Psychologie. Ich kann nur sagen, dass es eine fürchterliche Strafe war, abgeschnitten zu sein von meiner Mutter, nichts konnte mich darüber hinwegtrösten.“7
Genau das aber empfahl Haarer jungen Müttern: Wenn es nach aufmerksamer Beobachtung (Haarer widmet den Möglichkeiten berechtigten Schreiens, auf das eine Reaktion der Mutter erfolgen sollte, zwei Seiten) keinen ersichtlichen Anlass gibt, müsse man den Säugling eben in einem separaten Raum schreien lassen. Das Kind müsse von Anfang an lernen, sich einzufügen und einen Rhythmus anzunehmen, der auch der Mutter Schlaf ermögliche. Das normalgewichtige Kind solle tagsüber in vierstündigem Rhythmus gestillt werden und acht Stunden ohne Unterbrechung Nachtruhe halten. Im Zweifelsfall solle nachts gestillt werden, damit das Haus zur Ruhe komme. Interaktionszeiten mit dem Säugling sollen sich anfangs auf die Stillzeiten, das Windelwechseln und Baden beschränken. Bei „Machtkämpfen“ müsse die Mutter darauf achten, dem Kind nicht nachzugeben, sonst werde aus ihm ein „kleiner Tyrann“; das Kind dürfe nicht durch ein Zuviel an Zuwendung und Zärtlichkeit verzogen werden.
In der Realität wurde die Schwierigkeit, in innerlich und äußerlich chaotischen Situationen einen Haushalt mit Kindern funktionsfähig zu erhalten, auch im Hause Haarer nicht mit der empfohlenen Souveränität gelöst. Haarer selbst schlug ihre Kinder nicht, delegierte „Dresche“ aber an die Hausangestellte.8 Ihre jüngste Tochter beschreibt ihre Mutter keineswegs so beherrscht, wie es das Konzept vorsah.
„Wie überall, so ist auch in der Erziehung das Einfache immer das Richtige!“9 Die Grundsätze „Keine Nachgiebigkeit!“, „Nicht zu viel Beachtung!“ und „Nicht zu viel Bedauern!“10 wurden von Haarer NS-ideologisch unterfüttert. Angesichts der lebensgeschichtlichen Realität wirken solche Ratschläge wie aus Überforderung geboren und später zur Erziehungsmethode erklärt.
Kontrolle und
Gehorsam als Pflicht
Den Gehorsam der Kinder zu bewirken, galt als Elternpflicht. Dies war weder eine deutsche noch eine nationalsozialistische Besonderheit.
Mehrere Kontrollinstanzen überwachten mütterliches Handeln. Da war die internalisierte eigene Mutter, deren Erziehungserfolg insbesondere Mädchen garantieren sollten. Etwas anders zu machen als sie, brauchte Mut und gute Gründe, ihr Werk weiterzuführen, minderte innere und innerfamiliäre Spannungen. Es ist bemerkenswert, dass Haarer in ihren Erinnerungen sich selbst gegenüber durchaus kritisch war, ihren Eltern gegenüber nie. Elterliche Schwächen wurden benannt, aber sofort erklärt und entschuldigt. Der internalisierten Mutter standen handfeste äußere Kontrollinstanzen zur Seite: die weitere Familie, Nachbarinnen und Nachbarn, Mitschüler*innen der Kinder und deren Eltern. Die soziale Kontrolle war ausgeprägt.
Freilich passte Haarers „gesunder Menschenverstand“ gut zum Nationalsozialismus. Dort waren Gehorsam und Sich-einfügen-Können wichtige Erziehungsziele. Der Notwendigkeit, Familienalltag auch in Zeiten des Mangels praktisch zu organisieren, kam das Lob der straffen Organisation entgegen. Die Verherrlichung des totalen Staates und der souveränen Kontrolle mochte ein kleines Bollwerk gegen die Angst vor dem totalen Kontrollverlust bilden. Die Fokussierung auf das Funktionieren des Kindes entspricht der Erfahrung, als Mutter unter allen Umständen funktionieren zu müssen.
Wirkungsgeschichte
„Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ hat eine doppelte Wirkungsgeschichte. Die erste ist ein beispielloser Erfolg.11 Das Buch war zur NS-Zeit Bestandteil jeder Dorfbücherei und fand sich in vielen Haushalten. Haarer propagierte im Vorwort die NS-ideologische Erzählung des durch Aussterben bedrohten Volkes. Frauen sollten verstehen, dass Mutterschaft machbar ist und dass jede Frau die Pflicht habe, mehr als zwei Kinder zu gebären.
Rezipiert wurde weniger der Aufruf zur Mehrkindfamilie, sondern die Wichtigkeit des Lebens nach der Uhr und die Mahnung, das Kind nicht zu verziehen, es nicht durch Inkonsequenz haltlos, egoistisch und zu einem unnützen Glied der Gesellschaft werden zu lassen. Die Rezeption gerade dieser Empfehlungen entsprach dem, was viele aus eigener Erziehung kannten. Es korrespondiert mit der nationalsozialistischen Erziehung zur Härte, die in den Kinder- und Jugendverbänden propagiert wurde. Die lange Wirkungsdauer des Ratgebers ist ein Produkt gegenseitiger Verstärkung: Hier wurde systematisiert und erklärt, was von vielen „schon immer gewusst“ und selbst erfahren war, es wurde gerechtfertigt und mit der Zusage versehen, dass ein Leben mit Kindern geordnet verlaufen und gelingen könne. In Deutschland wurde bis in die 1970er-Jahre nach der Uhr gestillt. Die Empfehlung, den Säugling nach der Geburt für 24 Stunden von der Mutter zu trennen und auch danach möglichst in Ruhe zu lassen – bei Haarer mit drohender Reizüberflutung des Kindes begründet –, galt lange als pflegerischer Standard.
Von den 1990er-Jahren bis heute reicht die zweite Welle der Rezeption, die nicht selten den Charakter der Abrechnung einer Kinder- mit einer Müttergeneration trägt. Unterstellt wird, dass die von Haarer propagierte Art der Säuglingspflege zu Bindungsstörungen des Kindes im späteren Leben führen müsse, dass kindlicher Wille systematisch gebrochen werde und faschistische Persönlichkeiten vorgeprägt werden sollten. Dass Haarers Kinder im Lauf ihres Lebens psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch nahmen, wird der Erziehung angelastet. Dass ein Aufwachsen in Nationalsozialismus und Krieg, das Tabuisieren des NS nach dem Krieg, die Internierung der Mutter und der Suizid des Vaters ohne Hilfe kaum zu bewältigen sind, wird nicht in Betracht gezogen. In der zweiten Welle der Rezeption werden ein geschlossenes Weltbild und konsequente Praxis imaginiert, die die Unberechenbarkeit des wirklich gelebten Lebens, nicht zuletzt im Hause Haarer, verkennt. Die Betrachtung „schwarzer Pädagogik“ als Konzept verkennt überdies die dunkelschwarzen Seiten der Gewalt an Kindern aus elterlicher Verzweiflung, das Abreagieren eben nicht souveräner, sondern gebrochener und sprachloser Eltern an den Schwächsten.
Festzuhalten ist, dass Johanna Haarer die „Taktung“ des Kindes und das „Links-liegen-Lassen“ als elterliches Machtmittel über Jahrzehnte salonfähig gemacht hat, nicht zuletzt durch den in der Autorenangabe genannten Doktortitel und das Propagieren nicht pädagogisch fundierter Erziehungsgrundsätze in Gleichordnung mit medizinisch fundierten Erklärungen von Anatomie, Schwangerschaft und Geburt. Dennoch trägt der Modus der Abrechnung in der Rezeption auch Züge kindlicher Enttäuschung über den Menschen „Mutter“, der eben Mensch ist: verletzt, verführbar und eigengeprägt.
Nazimütter?
„Die Nationalsozialisten haben nichts Neues erfunden außer den Gaskammern“, pflegte ein befreundeter Historiker zu sagen, wenn ich mit einer „Nazi-Neuentdeckung“ aus Archiv oder Bibliothek kam. Diktaturen sind nicht schöpferisch. In ihnen wird Vorhandenes neu gewichtet, das eine zur Wahrheit erhoben, anderes dämonisiert, und vieles wird zum Verstummen und Verschwinden gebracht. Die Sicht der Nachgeborenen übernimmt häufig das Schwarz-weiß-Denken der Diktatur und dreht es um. Die Nachgeborenen haben es schwer, das Verstummte und Verschwundene wiederzuentdecken und die Buntheit des wirklich gelebten Lebens, das sich so oft nicht an die vorgegebenen Raster hielt. Noch haben wir die Möglichkeit, Hochaltrige zu befragen, wie es war, damals aufzuwachsen und damals Mutter zu sein, und die Geschichten von Verzweiflung und Idealen und unverhofften Rettungen zu hören.
Dass es „Nazimütter“ gibt, aber keine „Naziväter“ hat mit der Erwartung an beseelte Mütterlichkeit zu tun, die Müttern bis heute das Leben schwer macht. Die Perspektive, die Mutter müsse es richtig machen, sonst sei das Kind „verdorben“, bringt eine schwierige Grundspannung in das Mutter-Kind-Verhältnis. Bis heute fehlt das gelassene Vertrauen und Selbstvertrauen in Sachen Muttersein. Die Angst, dass frau als Mutter so ziemlich alles falsch machen könne und dies fatale Konsequenzen habe, wird mit der Schublade „Nazimutter“ nicht geringer. Geschichten von Rabenmüttern, Nazimüttern und bösen Hexen sind der „Struwwelpeter“ für erwachsene Frauen. Eine Kehrseite der übermenschlichen Erwartungen an Mütter.
Renate Kersten, geboren 1967, studierte Theologie und Semiotik. Sie ist Pfarrerin der Gemeinden Berlin Wartenberg und Malchow und gehört zur Evangelischen Schwesternschaft Ordo Pacis (www.ordo-pacis.de).
1 Erstauflage 1934, wie alle Auflagen vor Ende des 2. Weltkriegs erschienen in J. F. Lehmanns Verlag München; nach dem Krieg „Die Mutter und ihr erstes Kind“, zunächst 1949 im Burckhardthaus-Lätare Verlag München, später Carl Gerber Verlag München. Das Buch wurde durch die Autorin mehrfach überarbeitet. Darunter fällt nicht nur das Streichen der NS-Ideologie, sondern auch das Neueinfügen von Kapiteln wie „Gymnastik im Wochenbett“.
2 1. Auflage 1997, 6. Auflage 2016; auch dieses Buch wurde von seiner Autorin (Jg. 1941) überarbeitet.
3 Hier kann ich keine Studien anführen. Mir ist dies mehrfach in eigener seelsorglicher Praxis begegnet, als Eingeständnis, dass mein/e Gesprächspartner/in „eigentlich“ gar nicht aus der betreffenden Familie sei, sondern aus der Verwandtschaft, was man dann durch Adoption geregelt habe.
4 Edith Thomas: Hausmutterbüchlein, Johannes Stauda-Verlag, Kassel 1954.
5 Helmut Thielicke: Sex. Ethik der Geschlechtlichkeit, Mohr, Tübingen 1966, S. 162.
6 Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Ausgabe von 1941, S. 260.
7 Johanna Haarer/Gertrud Haarer: Die deutsche Mutter und ihr letztes Kind. Die Autobiografien der erfolgreichsten NS-Erziehungsexpertin und ihrer jüngsten Tochter, herausgegeben und eingeleitet von Rose Ahlheim, Offizin-Verlag Hannover 2012, S. 71.
8 A.a.O., S. 290.
9 Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, Ausgabe von 1941, S. 270.
10 A.a.O., S. 271 f.
11 In der Berliner Staatsbibliothek sind neun Ausgaben der Auflagen zwischen 1934 und 1943 (letztere das 500. – 532. Tsd.) vorhanden. Die veränderten Nachkriegsausgaben begannen 1949, die letzte Auflage erschien 1987. Die Gesamtauflage beider Bücher liegt bei 1 231 000 Exemplaren.