Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Seelsorge und Armut: Gemeindebau im Plattenbauviertel von Schwerin
Was kann Kirche in einem sozialen Brennpunkt ausrichten? Christiaan Kooiman ist zusammen mit seiner Frau in „einen Stadtteil mit Entwicklungsbedarf“ gezogen. Mit anderen zusammen haben die Kooimans ein christliches Nachbarschaftszentrum gegründet. Er träumt davon, dass Kirche auf der Seite der Armen steht.
Eine alte Frau steht auf der Straße und weint. Sie ist mit ihren Kräften am Ende und kann ihre Einkaufstüte nicht mehr tragen. Ihr Mann liegt schon seit einem halben Jahr zu Hause gelähmt auf dem Sofa. Sie haben weder Freunde noch Familie. Sie sind völlig auf sich gestellt.
Drei kleine Kinder sitzen abends vor dem Hauseingang. Sie hatten bisher weder Frühstück noch Mittagessen und warten darauf, dass ihre Mutter nach Hause kommt und Abendbrot macht.
Eine Gruppe Jugendlicher hängt vor unserem Zentrum ab. Sie sind gelangweilt. Sie zünden einen Kinderwagen an. Nicht, weil sie keine Hobbys haben, sondern weil sie unterfordert sind und keine Zukunft haben. Es gibt nichts – jetzt nicht, und in zehn Jahren auch nicht. Junge Eltern, die zutiefst überfordert sind, weil der Kühlschrank wieder leer ist. Starke Männer, die aufgeben. Rentner, die nach einem langen und harten Arbeitsleben feststellen, dass sie nichts haben.
Seit Ende 2009 leben meine Frau und ich im Mueßer Holz, dem dritten Teil einer großen Plattenbausiedlung in Schwerin. Ein Stadtteil mit besonderem Entwicklungsbedarf, wie es so schön heißt. Weniger schön könnte man sagen: ein sozialer Brennpunkt. Das, was wir in den letzten Jahren in unserer Nachbarschaft erlebt und gelernt haben, wäre uns nie so nah und existentiell begegnet, wenn wir nicht hingezogen wären. Denn unsere Lebenswelten, unsere Milieus sind getrennt. Auch wenn es keine Ghettos mit Mauern und Toren gibt, hat sich unsere Gesellschaft sozial so differenziert, dass wir im Alltag kaum echte Berührungen haben. Leider gilt das größtenteils auch für unsere Kirchen und Gemeinden.
ARMUT HAT SYSTEM
Die Armut, die uns in unserem Viertel intensiv begegnet, hat viele Gesichter. Wo sie uns am Anfang noch als eine Ansammlung individueller, äußerst tragischer Schicksale erschien, entdecken wir im Laufe der Zeit doch viele Gemeinsamkeiten. Geschichten von Ausbeutung im Sicherheitsgewerbe oder im Reinigungsdienst, von physischer und psychischer Überforderung, Menschen, die zwischen die Strukturen geraten sind und für die keiner mehr „zuständig“ ist, unmögliche Schichtarbeit für Alleinerziehende – das sind nur Beispiele, wie Armut auch System hat. Immer mehr hat sich bei uns der Eindruck verstärkt, dass sich in unserem Stadtteil die systematisch produzierten Reste, die „leftovers“ unserer Gesellschaft sammeln: alles, was nicht passt, überflüssig, ersetzbar oder sogar unerwünscht ist. Auf der anderen Seite haben wir hier eine Alltagskultur entdeckt, die uns total fasziniert – und herausfordert. Die Überlebenskünste der Menschen sind erstaunlich. Ihre Ehrlichkeit, Direktheit und Spontanität sind wohltuend – und entlarven gleich meine in der Mittelschicht sozialisierte Höflichkeit als Schein. Da, wo sie sich gruppieren, übersteigt ihre bedingungslose Hilfsbereitschaft und intensive Gemeinschaft bei Weitem meine individualistische und auf persönliche Grenzen bedachte Lebensweise. Und wenn sie feiern, feiern sie wirklich: Ihre ausgelassene, laute und unkomplizierte Freude – mitten im Leben, trotz aller Schwierigkeiten – begeistert mich.
ENTMISCHUNG IST GEWOLLT
Dennoch soll diese reiche und faszinierende Seite der Menschen im prekären Milieu nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie benachteiligt sind. Denn Armut ist nicht gut. Sie entwertet und entwürdigt Menschen. Milieus sind nicht gleichwertig und schon gar nicht neutral. Es gibt oben und unten. Dabei wird die Benachteiligung der unteren durch die Privilegien der oberen und mittleren Milieus bedingt. Warum ballt sich Armut in unserem Stadtteil? Weil die mittleren und oberen Schichten wegziehen und eigene Siedlungen bauen, weil sie ent-mischen. Warum zentrieren sich so viele – in Schwerin fast alle – soziale und kulturelle Herausforderungen in den Schulen unseres Viertels? Weil eine echte soziale und kulturelle Mischung an anderen Schulen nicht erwünscht ist. Die räumliche Trennung der Lebenswelten, wie sie in Schwerin sehr deutlich wahrnehmbar ist, ist nicht einfach ein Fehler der Stadtpolitik, sondern im Grunde von Teilen der Gesellschaft so gewollt. Besonders wenn es um die eigenen Kinder geht, sind nur wenige zu einer echten sozialen Mischung bereit. Und das führt dazu, dass Armut sich nicht nur ballt, sondern auch verfestigt und reproduziert.
Die gemeinsame Arbeit in der Küche, an der Nähmaschine oder am Betonmischer gehört für uns genauso zur Seelsorge wie das Gespräch.
Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Ich kann nicht aus einer Beobachterposition über Armut reden, denn ich bin Teil der Struktur, die sie mit verursacht. Wie ich wahrnehme und urteile, wie ich handle und lebe, das alles wird zwar nicht ausschließlich, dennoch wesentlich durch meinen sozialen Standort geprägt. Wenn ich wirklich entdecken möchte, was Armut ist, muss ich meinen Standort ändern. Zunächst geografisch – ich muss dort hinziehen, wo die Armen leben. Und dann, allmählich, auch sozial – indem ich von den Armen lerne. Noch rede ich dabei von „wir“ und „sie“ und vermute dabei, dass die meisten Leserinnen und Leser zu den mittleren Schichten gehören. Noch möchte ich dieses „Othering“, diese Distanzierung beibehalten: Sie aufzuheben würde die tatsächliche Trennung der Lebenswelten
verklären und meine eigene Position in dieser Ungleichheit verkennen. Dennoch ist es mein Traum, dass wir als Kirche irgendwann wieder so auf der Seite der Armen stehen werden, dass wir von „uns“ sprechen können.
Aus dem anfangs vielleicht etwas naiven Umzug in den Stadtteil ist inzwischen eine bunte und dynamische Gemeinschaft gewachsen. Wir blieben nicht alleine: Andere zogen hinzu, es entstand ein Team. Aus dem Leben in der Nachbarschaft entwickelten sich Straßenfeste. Aus dem „gemeinsam miteinander etwas Machen“ entstand die Idee, ein leerstehendes Gebäude zu renovieren. Daraus ist das Patchwork Center geworden: ein christliches Gemeinde- und Nachbarschaftszentrum, wo jeder, der durch die Tür kommt, gleich aktiv mitmachen kann. Gemeinsam betreiben wir inzwischen ein Café, eine Holz-, Fahrrad- und Textilwerkstatt, einen Second-Hand-Laden und vieles mehr. Und mittendrin entdecken Menschen den Glauben und es wächst eine neue Gemeinde.
ZUHÖREN UND MITKLAGEN
Aber wie „geht“ Seelsorge in diesem Kontext? Zunächst bedeutet Seelsorge hier – wie überall: Zuhören. Wirklich gehört und ernst genommen zu werden, ist keine selbstverständliche Erfahrung. Die eigenen Freunde haben meistens selbst schon genug um die Ohren – und außerhalb dieser Kreise findet man schon gar kein Gehör. Ich war mal bei einer rechten Demonstration dabei, um ins Gespräch zu kommen. Ich entdeckte einen Nachbarn und fragte, wie es ihm geht. Er erzählte mir gleich von seinen aktuellen Schwierigkeiten. Und dann bedankte er sich und verließ die Demonstration. Er war nicht da, weil er irgendeine Politik unterstützt oder Ausländer hasst. Er war da, weil er gehört werden wollte.
Seelsorge ist auch (Mit-)Klagen. In den vielen dramatischen und kaputten Lebensgeschichten, die mir erzählt wurden, habe ich den Wert des Klagens – und der Klagelieder – wieder entdecken dürfen: über das Unrecht, was Menschen widerfahren ist; die unfaire und unwürdige Behandlung im Jobcenter; über Vermieter, die ihre Wohnblöcke mit den Machtlosen füllen und dann jahrelang vernachlässigen; über existenzielle Probleme, für die sich keiner zuständig fühlt; über Verwahrlosung, Missbrauch, Diskriminierung, Gewalt. Ich höre nicht nur zu, sondern stimme auch ein. Gemeinsam klagen wir und, wenn möglich, bringen wir diese Klage zu Gott.
AKTIVIERENDE MITARBEIT
Seelsorge darf aber nicht beim Zuhören und Klagen stehenbleiben. Eine Opferrolle oder -haltung lähmt Menschen. In den ersten Jahren haben wir vor allem zugehört. Und entdeckt, dass das nur begrenzt hilfreich war. Die Probleme haben sich dadurch nicht gelöst, wir hatten oft das Gefühl, uns im Kreis zu drehen. Dann fingen wir irgendwann an, gemeinsam zu feiern. Weil wir gedacht haben, wenn wir wirklich Hoffnung haben, muss man das auch hören und schmecken können. Also, eine laute Party mit DJ und Essen an einem zentralen Ort in der Nachbarschaft, der sonst eher negativ auffällt. Und wir entdeckten eine erstaunliche Energie und Motivation bei Menschen, die sonst eher passiv wirkten.
Aktive oder auch aktivierende Mitarbeit ist dann zum Grundsatz unserer Gemeinschaft geworden. Und sie bestimmt auch unsere Seelsorge: Wir reden nicht nur, wir tun auch etwas gemeinsam. Oder: wir tun erst mal etwas gemeinsam, und dann reden wir. Denn einseitige Seelsorge verstärkt die Opferrolle und die Ungleichheit zwischen Seelsorger und „Patient“. Aktive Mitarbeit führt heraus aus dem endlosen Kreis, sie stellt ein Gleichgewicht her und befreit. Daher gehört für uns die gemeinsame Arbeit in der Küche, an der Nähmaschine oder am Betonmischer genauso zur Seelsorge wie das Gespräch.
KEINE EINBAHNSTRASSE
In den vielen Gesprächen und in der gemeinsamen, praktischen Arbeit haben wir aber auch entdeckt, dass Seelsorge keine Einbahnstraße ist. Im Gegenteil, je länger wir hier leben, desto mehr merken wir, dass wir die Armen mindestens genauso sehr brauchen, wie sie uns. Wenn Jesus recht hat, dass Wohlstand äußerst gefährlich für unsere Seele ist, brauchen wir, die wir privilegiert sind, die Seelsorge von unten.
Dabei fordert alleine schon das nachbarschaftliche Zusammenleben meinen Lebensstil heraus. Die intensive Begegnung mit so vielen existentiellen Problemen führt mich aus meiner Komfortzone heraus und macht mich wieder zum Lehrling. Meine Freunde zeigen mir, was echte Gemeinschaft bedeutet, und wie ich meine Identität auch jenseits der Arbeit und der individuellen Leistung finden kann. Sie zeigen mir, wie echtes Vertrauen und wahre Großzügigkeit funktionieren – auch am Ende des Monats! Und nur weil ich arme Freunde habe, kann ich lernen, alles zu teilen, was ich habe. (Denn nur wenn ich meinen Besitz teile, hört er auf, mich zu besitzen. Aber mit wem soll ich mein großes Auto teilen, wenn alle meine Freunde selber ein großes Auto haben?)
In dieser Umkehrung, in der die Armen die Leitung übernehmen und unsere Seelsorger werden, wird das Evangelium sichtbar und entsteht die Kirche. Alles andere wäre nur wieder ein sozial-diakonisches Projekt, das zwar Gutes tut, die soziale und gesellschaftlich bedingte Minderwertigkeit jedoch nicht aufhebt, höchstens besänftigt. Wir glauben aber an eine Gute Nachricht für die Armen, der zufolge die Letzten die Ersten werden, die Kleinen groß – und die Großen klein.
Christiaan Kooiman lebt seit Ende 2009 mit seiner Frau und inzwischen zwei Jungs in Schwerin und leitet dort das Patchwork Center, eine Gemeinde(-gründung) der Freien evangelischen Gemeinde in Norddeutschland. Er hat Theologie an der ETF Leuven studiert. Die Familie wird von Kirchen in den Niederlanden und Belgien unterstützt.