Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_2) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Therapeut mit Herz – Warum Herzpatienten mir Angst machten, bevor ich ein Herzpatient wurde
von Uwe Simon
Barockmusik wirkt sich schon nach 10 Sekunden günstig auf den Blutdruck aus. Wenn Verliebte sich 3 Minuten lang in die Augen schauen, synchronisieren sich ihre Herzschläge. Das Herz eines Mannes schlägt durchschnittlich 2,7 Milliarden Mal, das einer Frau 3,3 Milliarden Mal. Die erstaunlichen Eigenschaften dieses Muskels mitten im Körper faszinieren, können aber auch Angst machen.
Als Kind war mir, wie den meisten Menschen, nicht bewusst, dass ich ein Herz habe. Ich spürte es nicht, und wenn, dann nach körperlicher Anstrengung oder wenn ich freudig erregt war (später: wenn ich verliebt war). Ein gesundes Herz tut, was es soll: im Hintergrund zuverlässig und unbemerkt schlagen und so dem Körper unaufgeregt das Überleben sichern. Unangenehme Bekanntschaft mit meinem Herzen machte ich erst, als ich mich in meiner ersten Stelle als junger Psychologe in einer Rehaklinik für Herzpatient*Innen mit dem Thema Herz konfrontiert sah. Wie es ein anständig engagierter Berufsanfänger tut, entwickelte ich prompt ausgeprägte Ängste vor einem Herzinfarkt. Ob die Ängste Auslöser oder Folge der Symptome waren, kann ich nicht sagen. Die Symptome waren für mich jedenfalls zweifelsfrei und unmissverständlich Vorboten eines bald eintretenden Herzinfarkts: Ziehen im linken Arm, Taubheitsgefühle, Missempfindungen und Druck in der Herzgegend. Die hatte ich irgendwann so gut konditioniert, dass ich mir in Belastungssituationen einbilden konnte, sie würden stärker. Mit allen Indizien für einen ernsten Herzschaden ging ich zum Internisten, der nach einer sorgfältigen körperlichen Untersuchung kein Blatt vor den Mund nahm: „Herr Simon, Sie sind ein vegetatives Würstchen. Ihr Herz ist gesund.“ Ich wusste sofort, was er mit dem „Würstchen“ meinte und dass er Recht hatte. Dass mein Herz gesund sei, glaubte ich ihm dennoch nicht so ganz. Damals ging es mir richtig schlecht, und ich hatte schon mehr als einmal einsam in meinem Sprechzimmer geweint. Ich hatte wirklich Angst. Oft ahnte ich im Voraus: Gleich kommt wieder eine Gesprächssituation, in der ich mehr Angst haben werde als mein Patient. Hoffentlich merkt der nicht, wie ich anfange zu schwitzen! Er sieht mir doch bestimmt an, dass ich jetzt total unruhig bin und erschrocken gucke. Krankheitsgeschichten über Herzinfarkte waren ein Horror für mich. Psychovegetativ komplett übersteuert, angstgeleitet im Kontakt mit den meist deutlich älteren Männern, die allesamt meine Väter hätten sein können, verbrachte ich meine Arbeitstage. Oft waren die Patienten empört über die unverschämten Machenschaften ihres Körpers, der sie auf diese Weise demütigte und ausbremste. Sie berichteten, nun auch zum „alten Eisen“ zu gehören, und waren gefühlt meilenweit weg von dem, was in ihrem Inneren vorging. Ich spürte, was sie hätten spüren sollen, und empfand wohl auch stellvertretend für sie unangenehme Gefühle wie Ängste. Oft erlebten sie ihre Erkrankung als Bedrohung und Gefahr, nur manchmal als Chance für einen möglichen Neubeginn. Durch die Selbsterfahrung im Rahmen meiner Psychotherapeutenausbildung wurde mir klar: Wahrscheinlich habe ich selbst mehr von dem, was mich ängstigt und abstößt in mir, als mir lieb und recht ist.
Eine veraltete Typenlehre
Als Erklärung für das, was ich bei den Herzinfarktpatienten verspürte, begegnete mir die „Typ A- Persönlichkeit“ (TAP) als klinische Zusammenfassung verschiedener Symptome, die lange Jahre als fast schon sprichwörtliche Charakterbeschreibung für koronare Herzpatienten galt.[1] Wesentliche Vorarbeit für die „Entdeckung“ des Typ A-Herzpatienten leistete ein Polsterer, der in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts Sitzgelegenheiten im Wartezimmer der kardiologischen Praxis von Meyer Friedman neu beziehen sollte. Er stellte ungewöhnlich starke Abnutzungen an Armlehnen und Sitzflächen fest, die auf eine intensive motorische Aktivität hinwiesen. Dies brachte Friedman und seinen Kollegen Ray Rosenman dazu, bei ihren Patienten einen Zusammenhang herzustellen zwischen Verhalten, Körperreaktionen und Erkrankung: Hektik und Ungeduld verursachen ungesunde körperliche Stressreaktionen, die zu einer Herzkrankheit führen können. In der Ausgestaltung dieser auf Beobachtungen basierenden Typologie beinhaltete der Typ A-Charakter extreme Wettbewerbsorientierung und überdurchschnittliche Leistungsmotivation, ausgeprägtes Streben nach Anerkennung, starke Ungeduld, gepaart mit feindseliger Aggressivität bei niedriger Schwelle für Ärger, motorische Unruhe und zwanghaft perfektionistisches Verhalten bei einem großen Wunsch nach Dominanz und Kontrolle. Neuere Untersuchungen zeigen, dass vom krankheitsrelevanten Aspekt des Typ A- Verhaltensmusters nur die Feindseligkeit und der Ärger als ernstzunehmende Prädiktoren für eine koronare Herzerkrankung übriggeblieben sind. In dem Buch „Anger kills“ des Verhaltensmediziners Redford B. Williams[2] beschreibt der Autor, wie wir mit krankmachendem Ärger und Feindseligkeit konstruktiv umgehen können. Der Patient stellt sich eine konkrete Ärgersituation aus seinem aktuellen Lebensalltag vor und beantwortet drei Fragen:
- Bin ich im Recht?
- Ist es (mir) wichtig?
- Kann ich etwas ändern?
Die Verhaltensanweisung lautet: Wenn ich alle drei Fragen mit Ja beantworten kann, ist der Ärger berechtigt, wichtig und eine mögliche Kraftquelle für Veränderung. Wenn ich mich selbst ernstnehmen will, besteht der Auftrag also darin, den Ärger in einen Akt der Selbstbehauptung umzuwandeln und ihn nicht ungenutzt verrauchen zu lassen. Wenn ich allerdings auch nur eine einzige Frage mit Nein beantworte, bringt mir das Ausleben meines Ärgers nichts, und es ist besser, meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten, um negative Auswirkungen meines Grolls auf meinen Körper und meine Seele zu verhindern. In diesem Fall tue ich gut daran, mich an die eigene Nase zu fassen oder mir zu sagen: „Sch… drauf“ oder auch mich mit den unveränderlichen Umständen zu arrangieren.
Bemerkenswert ist, dass Williams auch langfristige Strategien im Umgang mit Ärger vorschlägt. Wie wir negative Folgen für unsere Gesundheit verhindern können, liest sich wie eine Praxisanleitung gelebter christlicher Nächstenliebe: Toleranz, Freundlichkeit und Vertrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen einüben, Verzeihen und Vergeben aktiv praktizieren, Einfühlungsvermögen zeigen, eigene religiöse Bindungen stärken, und nicht zuletzt: die Dinge mit Humor betrachten.
Zurück zu den z.T. veralteten Typologie-Konstrukten, die im Zusammenhang mit Herzerkrankungen diskutiert wurden. Im Gegensatz zum Typ A zeichnet sich die ebenfalls von Friedman und Rosenman postulierte Typ B-Persönlichkeit durch Zufriedenheit und Gelassenheit aus. Diese Persönlichkeitseigenschaften gelten eher als Schutzfaktoren vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was dem gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtet. Von der Definition her war der Typ B allerdings eigentlich eher ein „Nicht-A Typ“. In Bezug auf den Zusammenhang von Persönlichkeitseigenschaften und der Wahrscheinlichkeit, einen Herzinfarkt zu erleiden, gibt es aber relevante Aspekte. Der niederländische Medizinpsychologe Johan Denolett[3] beschreibt die sog. Typ D-Persönlichkeit (TDP), die vermutlich tatsächlich mit einem erhöhten Risiko für einen Tod durch Herzinfarkt in Zusammenhang steht. Das Konstrukt „Typ D“ steht für disstress, also für negative Stressreagibilität mit sozialem Rückzug, Kummer, sozialer Hemmung und fehlendem Selbstvertrauen.
Und mein eigenes Herz?
Nach diesem Exkurs zurück in mein Sprechzimmer: Es waren tatsächlich die koronaren Herzpatienten, die mir Angst machten. Tendenziell entspannter und ausgeglichener erlebte ich mich, wenn ich Gespräche zur Krankheitsverarbeitung mit Herzklappen-Patienten oder mit Patienten führte, die eine Herzrhythmusstörung hatten. Ich erlebte mich im Kontakt mit ihnen tatsächlich selbst gelassener und deutlich entspannter und vor allem: nicht von Angst getrieben. Ich hielt es länger als fünf Jahre in der Klinik aus, obwohl ich schon deutlich früher merkte, dass es für mich keine Stelle fürs Leben war.
An meiner nächsten und jetzigen Stelle merkte ich dann bald, dass mein Herz wieder das tat, was ein gesundes Herz tut: im Hintergrund zuverlässig und unbemerkt schlagen. Die Angst verschwand, zurück blieb die Erkenntnis, dass ich verwundbar, verletzlich und angreifbar bin. In meiner geliebten Arbeit mit Menschen fühle ich mich tief verbunden mit dem Verwundbaren und Verwundeten im Anderen. Ich empfinde es als ein Vorrecht, diese Arbeit zu tun, und erlebe sie nicht selten als bezahlte Selbsterfahrung. Ich verbeuge mich vor der erlittenen und manchmal meisterlich gestalteten Leidensleistung meiner Mitmenschen. Es braucht diese Art Verbindung, damit ein guter, ehrlicher Kontakt entstehen kann. Sie bewirkt, dass ich kein Gefälle zwischen mir und meinem Gegenüber verspüren muss – weder in die eine noch in die andere Richtung. Das ist so unglaublich befreiend, und die Last beim Mittragen wird leichter. Ich darf dabei sein, darf beim Verstehen und Bewältigen mithelfen. Ich kann als fachkundiger „Veränderungsassistent“ das zur Verfügung stellen, was ich habe: am Ende immer nur mich selbst – mit meinem Wissen, meinen menschlichen Möglichkeiten und Grenzen. Und das Schöne dabei: Es reicht aus!
Gott hat Humor: Ich arbeite nun seit über 20 Jahren in der stationären Versorgung von Psychotherapie-Patienten, davon mehr als 15 Jahren auf einer Station, die „Herzberg“ heißt. Außerdem bin ich der dritte von vier Brüdern und als Hobbyskatspieler verleitet zu sagen: der Herzbube. Mit ungefähr 40 Jahren stellten sich bei mir Herzrhythmusstörungen ein, die zwar sehr unangenehm, aber seltsamerweise – im Gegensatz zu meinen Herzinfarktbefürchtungen – nie beängstigend waren. Ich litt gut zwölf Jahre daran. Zwei invasive Eingriffe waren nötig, bis ich 2017 nach einer Ablation vom Vorhofflimmern befreit wurde. Immer wenn ich mir das bewusst mache, werde ich von tiefer Dankbarkeit erfüllt. Mir ist klar: „Jeder Tag ohne“ ist ein Geschenk und nicht selbstverständlich. Denn ich weiß, dass die Symptomatik zurückkehren kann.
Das Motto unserer Klinik heißt: „Fachlich kompetent, christlich engagiert, herzlich zugewandt“. Besonders den letzten Aspekt finde ich großartig und den beiden anderen mindestens ebenbürtig: Herzliche Zugewandtheit ist in unserem Beruf nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Die innere Haltung, mit der ich meinem Gegenüber begegne, entscheidet wesentlich darüber, welche Auswirkungen die Begegnung im Anderen erzeugt. Das ist so banal, und zugleich ist es so wichtig, mir das immer wieder deutlich zu machen. Auch zuweilen konfrontative Zuwendung schadet nicht, wenn sie ehrlich, herzlich und achtsam geschieht. Besonders dann nicht, wenn ich um meine eigene Brüchigkeit, Begrenztheit und Verletzbarkeit weiß. Es geht, kurz gesagt, um wesentliche Begegnungen. Ich habe in eigenen Ängsten die Erfahrung gemacht, welch heilsame Wirkung die wesentliche Begegnung mit wohlmeinenden Mitmenschen hat. Selbst Hilfe anzunehmen ist für professionelle Helfer ja oft nicht selbstverständlich. Stolz und Scham können ernste Verhinderer sein. Von Herz-Patienten habe ich gelernt: Wahre Größe zeigt sich nicht im Festhalten-Wollen dessen, was ich hatte, sie zeigt sich vielmehr in der Fähigkeit, zu lassen, in der Möglichkeit, den Verlust zu realisieren, der eine Tür für Neues und ganz unerwartet Positives öffnen kann.
Dipl.-Psych. Uwe Simon, geboren 1965, ist Psychologischer Psychotherapeut. Er arbeitete von 1993 bis 1998 in der Herz-Kreislauf-Klinik Bad Berleburg und ist seit 1999 in der Psychotherapeutischen Abteilung der Klinik Hohe Mark tätig.
[1] Meyer Friedman / Ray Rosenman: Type A Behavior and your Heart, Knopf, New York 1974.
[2] Vgl. Redford B. Williams: Anger Kills. Seventeen Strategies for Controlling the Hostility that can Harm your Heart, Harper, New York 1993.
[3] Johan Denolett: Personality, Emotional Distress and Coronary Heart Disease, in: European Journal of Personality, 11 (1997), S. 343-357.
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