Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2020_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Umgang mit dem Heiligen – Ein Blick auf den Gottesdienst
Von Alexandra Dierks
Gott ist heilig. Gott ist unsichtbar. – Wie können wir da Gottesdienst feiern?
Seit es Menschen und damit Religion gibt, bedeutet der Umgang mit Gott oder den Göttern immer dies: Umgang mit Heiligem und Umgang mit Unsichtbarem. In allen Religionen haben sich dazu Rituale, Bräuche, Regeln entwickelt. Das gilt auch für die christlichen Kirchen. Wir Christen glauben an den einen heiligen und unsichtbaren Gott, und wenn wir Gottesdienst feiern, dann gehen wir gemeinsam mit dem Heiligen und Unsichtbaren um – in den Ausdrucksformen, die sich aus unserem Glauben ergeben. Wie verhalten wir uns, wenn wir mit dem Heiligen und Unsichtbaren umgehen wollen?
Der besondere Ort
Christliche Gottesdienste werden in der Regel in einer Kirche gefeiert. In ihrer Architektur sind Kirchen auf diesen Zweck ausgerichtet, und ihre Gestaltung folgt im Wandel der Jahrhunderte immer neu den Inhalten des christlichen Glaubens. Wer eine Kirche betritt, soll wissen und spüren, dass dies ein besonderer Ort ist, an dem wir dem Heiligen begegnen können. Zugleich gilt: Beinahe jeder andere Ort kann zum Ort eines christlichen Gottesdienstes werden, sei es die Wiese, das Wohnzimmer, die Turnhalle oder die Kneipe. Wenn solche Orte zu Gottesdienstorten werden, dann werden sie vorübergehend „umfunktioniert“: Der Raum wird abgegrenzt, ein Tisch mittels Kerzen, Blumen und Kreuz als Altar kenntlich gemacht, Sitzkissen, Stühle oder Bänke so angeordnet, dass sich die Gottesdienstbesucher als Gemeinde erkennen können, usw. Wie auch immer das konkret aussieht, gänzlich ohne solche Gestaltungselemente – und sei es nur eine brennende Kerze – kommen wir in der Regel nicht aus. Der Umgang mit dem Heiligen braucht einen geheiligten Raum.
Vorbereitung
Wer dem Heiligen bewusst begegnen will, bereitet nicht nur den Raum, sondern auch sich selbst darauf vor. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich dafür manche Rituale und Bräuche entwickelt, z. B. sexuelle Enthaltsamkeit vor dem Gottesdienst; das Anlegen des „Sonntagsstaats“; Fasten vor dem Gottesdienst; das Ablegen der Beichte. Das Vollbad am Samstagabend, in Deutschland bis in die 1980er-Jahre in vielen Familien festes Wochenendritual, kann als profanisierte Form der Sonntagsvorbereitung mit dazugerechnet werden. Die meisten dieser Vollzüge sind inzwischen unüblich geworden, die Grundidee dahinter ist allerdings noch erkennbar: Um dem Heiligen begegnen zu können, um diese Begegnung zu wagen, müssen Leib und Seele vorbereitet und „gereinigt“ sein.
Eintritt ins Heiligtum
Wie betritt man eine Kirche, wenn sie der Ort des Heiligen ist? In der christlichen Tradition haben sich auch dazu verschiedene Bräuche entwickelt: das Abnehmen der Kopfbedeckung; das Kreuzzeichen, in katholischen Kirchen mit Wasser aus dem Weihwasserbecken; vor dem Ansteuern des Sitzplatzes die Verneigung in Richtung Altar; für Katholiken das Beugen des Knies in Richtung Tabernakel; schließlich, bevor man Platz nimmt, ein kurzes, stilles Gebet als innere Einstimmung auf den Gottesdienst. Insbesondere Verneigung und Kniebeuge fallen auf: Es handelt sich um Gesten, die Ehrerbietung ausdrücken sollen, Anerkennung von höherer Autorität und Macht. Sie gehören auch jenseits von Religion zum Bewegungsrepertoire der Menschheit. So findet sich die Kniebeuge bei aufrecht bleibendem Oberkörper z. B. im mittelalterlichen Rittertum; die Verneigung ist überall auf der Welt ein Zeichen des Respekts. In der Kirche gelten diese Verehrungsgesten natürlich Gott, allerdings indirekt: Wer sich vor dem Altar verneigt, meint nicht den Tisch aus Holz oder Stein, sondern den Ort, an dem sich die Gegenwart Gottes erfahren lässt, und damit den unsichtbar gegenwärtigen Gott. Wer als Katholik vor dem Tabernakel das Knie beugt, meint nicht den Kunstgegenstand, sondern die Gegenwart Jesu Christi, verborgen im geweihten, gewandelten Brot, das im Tabernakel aufbewahrt wird. Der Unsichtbare wird verehrt an den sichtbaren Orten seiner geglaubten Gegenwart.
„Er vergebe uns unsere Sünde“
Fast überall beginnt der Gottesdienst mit Musik und Gesang. In eher traditionell ausgerichteten Gemeinden folgt darauf die Eröffnung: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Das erste, was im christlichen Gottesdienst feierlich ausgesprochen wird, ist also der Name Gottes, der allerdings kein Göttername im herkömmlichen Sinne ist, wie Zeus oder Thor oder Shiva, sondern eine Wesensbeschreibung: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Ausdrücklich wird gesagt, dass der Gottesdienst in seinem Namen gefeiert wird. Damit wird das Wesen Gottes ausdrücklich auf diese konkrete Gottesdienstfeier bezogen und das ganze Geschehen dadurch „geheiligt“.
In vielen Gemeinden – vor allem der katholischen und lutherischen Tradition – folgt auf die liturgische Eröffnung das sog. Confiteor, eine kurze, allgemeine Bitte um Sündenvergebung: „Der allmächtige Gott erbarme sich unser. Er vergebe uns unsere Sünde und führe uns zum ewigen Leben.“
Diese kurze Bitte ist keine eigentliche Beichte. Sie zielt nicht auf das Bekenntnis konkreter einzelner Sünden. Was hier zum Ausdruck kommt, ist zum einen die Erkenntnis der eigenen Unheiligkeit gegenüber dem heiligen Gott, und zum anderen die Tatsache, dass wir in diesem Moment darauf angewiesen sind, dass der heilige Gott uns trotzdem den Zugang zu ihm ermöglicht. In der vortridentinischen katholischen Messe kommt das durch das sog. Stufengebet des Priesters, ursprünglich gebetet an den Stufen des Altars, zum Ausdruck: „Nimm von uns, o Herr, unsere Sünden, auf dass wir würdig werden, mit reinem Herzen zum Allerheiligsten einzugehen.“2 In aktuellen evangelischen wie katholischen Gottesdienstformularen finden sich inzwischen andere Formulierungen, aber auch hinter diesen, deutlich allgemeiner klingenden Formeln wird erkennbar, dass der Zugang zum heiligen Gott etwas ist, das uns ermöglicht und geschenkt wird.
„Du bist heilig“
In der klassischen Messe, wie sie in den lutherischen, katholischen oder anglikanischen Kirchen gefeiert wird, konzentriert sich der erste Teil des Gottesdienstes auf die Anbetung Gottes, insbesondere in den liturgischen Gesängen. Dort heißt es z. B. im „Gloria in excelsis“, einem der ältesten Gesänge der Christenheit:
„Denn du allein bist der Heilige, du allein der Herr, du allein der Höchste, Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist zur Ehre Gottes des Vaters.“
Auch in den Gottesdiensten der Freikirchen gehört der Anfang in der Regel dem Gesang, und auch hier wird, oft in mehreren aufeinander folgenden Liedern, ausdrücklich die Heiligkeit und Herrlichkeit Gottes besungen. Diese singende Anbetung verbindet sich in den meisten Gottesdiensten mit der Haltung des Stehens, je nach Stil der Gemeinde auch mit dem Erheben der Hände. So findet die Anbetung auch in weniger traditionell geprägten Gemeinden einen doppelten Ausdruck, sprachlich und leiblich.
Es gibt noch einen zweiten Ort im Gottesdienst, an dem Gottes Heiligkeit ausdrücklich angesprochen wird, und zwar zum Beginn der Abendmahlsfeier bzw. der Eucharistie:
„Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth. Alle Lande sind seiner Ehre voll. Hosianna in der Höhe.“
In der Bibel werden diese Worte den Seraphim zugeschrieben, die über dem Thron Gottes schweben und Gottes Heiligkeit und Herrlichkeit besingen (Jes 6,2-3). Im christlichen Gottesdienst markieren sie den Eintritt in den Vollzug des Sakraments. Das Besingen der Heiligkeit Gottes leitet über zur Feier des heiligen Essens.
Und virtuell?
Durch die Corona-Pandemie und die daraus folgenden Maßnahmen war es zeitweise nicht möglich, überhaupt gemeinsam Gottesdienste zu feiern. Schnell gab es vielfältige Angebote im Fernsehen und im Internet, Gottesdienste quasi virtuell zu feiern. Kann man dem Heiligen also auch im digitalen Raum begegnen? Die theologische Antwort lautet: Grundsätzlich ja; so wie man ja auch in der Kneipe oder im Wohnzimmer Gottesdienst feiern kann. Die bisherigen Erfahrungen zeigen allerdings auch: Es ist deutlich schwieriger. Das liegt zum einen an der sehr unterschiedlichen Qualität der digitalen Angebote, die das Mitfeiern unterschiedlich gut ermöglichen. Zum zweiten ist die eigene Beteiligung in Haltung, Gesten, Gesang erschwert – wer will sich schon in Richtung eines Monitors verneigen oder in der WGKüche Worship-Songs singen? Drittens stellen vor allem Ablenkungs- und Störanfälligkeit ein Problem dar. Ob Familienmitglieder durch den Raum laufen oder man selbst nebenher bügelt – der geschützte Raum für die Begegnung mit Gott fehlt vielfach. Die ausschließliche Konzentration auf den Unsichtbaren fällt schwerer, wenn im Nebenzimmer die Kinder lärmen, der Partner in der Videokonferenz hängt und die Unterlagen für die eigene Arbeit im Sichtfeld liegen. Wer digital Gottesdienst feiern und dem Heiligen und Unsichtbaren durch virtuelle Formate vermittelt begegnen will, muss dementsprechend mehr Energie darauf verwenden, Störungen und Ablenkungen auszuschalten und sowohl einen äußeren als auch einen inneren Raum zu schaffen, in dem man sich selbst für die Wirklichkeit Gottes öffnen kann.
Einen Sonderfall stellt die Frage nach der Möglichkeit digitaler Abendmahlsfeiern dar. Hier sind die sich daraus ergebenden theologischen Fragen noch völlig ungeklärt. Insgesamt sind die Erfahrungen mit digitalen Gottesdienstformaten noch zu neu, als dass schon belastbare Erkenntnisse daraus zu gewinnen wären.
Sichtbar unsichtbar
Zurück zum realen Kirchenraum. Von dem kürzlich verstorbenen Verhüllungskünstler Christo wurde in zahlreichen Nachrufen gesagt, er habe die Dinge durch seine Verhüllungen in besonderer Weise sichtbar gemacht. Etwas Ähnliches lässt sich vom christlichen Gottesdienst sagen: Er umhüllt die unsichtbare Heiligkeit Gottes und macht sie dadurch erkennbar. Er rechnet mit der verborgenen Gegenwart Gottes und hilft dadurch, an sie zu glauben. Was wir im Gottesdienst tun und sagen, wie wir uns bewegen und verhalten, lässt erkennen, dass wir hier mit dem Heiligen umgehen. Gesten der Anbetung und Ehrfurcht ebenso wie Gebete und Gesänge spiegeln so die Größe, die Macht, die Herrlichkeit und Heiligkeit Gottes, an die wir glauben, mit der wir rechnen, die wir aber nicht sehen. Unterlegt ist alles gottesdienstliche Tun von dem Bewusstsein, dass wir keinen Anspruch auf Umgang mit dem Heiligen haben. Wir sind darauf angewiesen und wir feiern unsere Gottesdienste in der Hoffnung und in dem Vertrauen, dass der Heilige und Unsichtbare bereit ist, Umgang mit uns zu haben.
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Dr. Alexandra Dierks ist Militärpfarrerin in Wunstorf.