Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2022_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Verarmungswahn
Es gibt Menschen, die fest davon überzeugt sind, dass sie tief in einer finanziellen Notlage stecken, obwohl sie materiell gut aufgestellt sind. Arnd Barocka erläutert, warum ein Faktencheck nicht hilft.
Welche typischen Äußerungen hören wir von Menschen mit Verarmungswahn? Oft äußern sie spontan gar nichts, weil es ihnen sehr schlecht geht. Nur auf Nachfragen oder im Verhalten wird deutlich: Sie befürchten, dass die Krankenkasse nicht zahlt; sie können sich die Behandlung nicht leisten. Sie sind verzweifelt, weil sie alles verloren haben. Sie können ihre Familie nicht mehr versorgen. Sie haben Schande über sich gebracht und müssen jetzt betteln gehen. In diesem extremen Denken äußert sich eine spezifische Sorge um die materielle Existenz. Das ist der Inhalt des Denkens, der sich durch die Frage „Was denkt dieser Mensch?“ erschließt. Diese Sorge ist typischerweise Symptom einer Depression. Der Verarmungswahn ist ein typischer depressiver Wahn und muss im Rahmen der Depression, also wie eine Depression, behandelt werden.
HEIMTÜCKISCHES GRÜBELN
Wenn wir uns dabei die Form des Denkens ansehen („Wie denkt dieser Mensch?“), dann finden wir das heimtückische Grübeln. Grübeln ist heimtückisch, weil es eine Lösung verspricht, aber manchmal das Problem nur schlimmer macht. Wer grübelt, hofft, durch Nachdenken einen Ausweg zu finden. Stattdessen dreht sich das Denken in sich wiederholenden Schleifen im Kreis und führt in die Verzweiflung. Durch Nachdenken können die Betroffenen keinen Ausweg aus der materiellen Notlage finden, weil ja gar keine materielle Notlage besteht. Und damit kommen wir zu der Besonderheit des depressiven Verarmungswahns: Es ist ein Wahn.
Wahn ist definiert als eine unzutreffende, aber unerschütterliche Überzeugung. Wahn ist etwas so Ungewöhnliches, zugleich Unheimliches und Fremdes, dass viele Menschen es sich gar nicht vorstellen können. Man muss es einmal erlebt haben. Nicht unbedingt in dem Sinn, dass man selbst einmal an Wahnerleben gelitten hat – das dürfte für die meisten nicht gelten. Es ist schon eindrücklich, Wahnkranken zu begegnen und dabei die üblichen Frustrationen zu erleben, wenn man versucht, mit ihnen zu reden. Denn Diskutieren nützt nichts. Die Betroffenen können gut situiert sein: Einer Kranken zeigte man Kontoauszüge; sie erklärte sie für gefälscht.
Schauen wir an dieser Stelle noch einmal auf die Form, also das Wie des Denkens. Es ist in sich logisch, wenn auch an manchen Übergängen etwas vage. Der Eindruck von Starrheit, den dieses Denken vermittelt, entsteht, weil es unzugänglich für Einflüsse von außen ist. Die anderen Menschen erreichen den Wahnkranken nicht, man kann ihn nicht überzeugen. Diese sozusagen „kognitive Einsamkeit“ ist das Wesentliche beim Wahn, weniger die irrige Überzeugung, sodass die paradoxe Situation vorkommen kann, dass ein Mensch mit Verarmungswahn tatsächlich verarmt – schon als Folge der Erkrankung ist das möglich.
KOGNITIVE THERAPIE UND PSYCHOPHARMAKA
Aber es gibt Einbruchsschneisen in diese Festung. Die Kognitive Therapie, die vor nichts zurückschreckt, hat auch eine Psychotherapie für Wahn entwickelt.1 In ihr wird den Kranken viel Raum gegeben, ihre Ideen darzulegen und der Wahn wird vorsichtig hinterfragt. Nach meiner Erfahrung wird dieser Ansatz von den Patientinnen und Patienten sehr geschätzt und verbessert die therapeutische Beziehung; aber er ändert wenig am Wahn – außer: Man behandelt gleichzeitig mit Psychopharmaka. Wahn, vor allem, wenn er noch nicht so lange besteht, spricht gut auf Medikamente vom Typ Neuroleptika an, zum Beispiel Risperidon oder Amisulprid. Dann kann man nach Tagen bis Wochen der Behandlung erleben, wie die Kranken selbst sich immer mehr vom Wahn distanzieren.
Prof. Dr. Arnd Barocka, geboren 1952, ist Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie in Oberursel. www.arnd-barocka.de