Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2025_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Gefährliche Wut auf sich selbst
Wie ein guter Umgang mit der Depression aussieht
Eine Depression ist in ambulanten und stationären Psychotherapien die häufigste Diagnose – und sie ist behandelbar. Martin Grabe gibt einen Überblick über die Behandlungsmöglichkeiten und zeigt auf, wo und wie eine Psychotherapie ansetzen kann.
Generell ist mit Depressivität gemeint, dass die Stimmungslage herabgesetzt ist, die Betroffenen nur noch wenig Antrieb haben, sich schlecht konzentrieren können, sich wenig zutrauen, affektiv weniger erreichbar sind als sonst (nicht „mitschwingen“), hoffnungslos sind und leicht in negative Grübeleien abgleiten.
Bei ausgeprägteren Depressionen können diese Grübelgedanken dann bis zur völligen Verzweiflung gehen, bis zum Gefühl, alles sei hoffnungslos und könne nie mehr besser werden. Bestimmte irrationale Überzeugungen können das Ausmaß eines Wahnes erreichen, zum Beispiel als Verarmungswahn (die Hausschulden niemals abtragen zu können, im Alter nicht versorgt zu sein) oder Schuldwahn (etwas getan zu haben, was man nie wieder gut machen kann). Die Betroffenen zeigen keinerlei Initiative mehr, kommen oft gar nicht mehr aus dem Bett und können auch Freunden oder Familienmitgliedern kein Interesse mehr entgegenbringen. Oft herrscht ein quälendes „Gefühl der Gefühllosigkeit“ vor, also nicht einmal mehr eine für die Betroffenen fassbare Traurigkeit. Somatische Symptome wie Schlaflosigkeit kommen hinzu. Menschen mit einer solch ausgeprägten Depression müssen auch immer als hoch suizidgefährdet gelten.
Depressionen können sehr unterschiedliche Ursachen haben, und das gilt es in der Behandlung zu berücksichtigen. Es gibt Depressionen, die durch sehr verschiedenartige körperliche Erkrankungen begründet sind. Das kann eine Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose), ein Hirntumor oder vieles mehr sein. Bei jeder schwereren Depression sollte deshalb immer auch eine organische Diagnostik erfolgen. Wenn sich hier eine Ursache findet, kann durch gezielte Behandlung oft schnell und ausreichend geholfen werden.
Bei den weitaus meisten Depressionen geht es allerdings um die Kombination eines neurophysiologischen und psychischen Geschehens. Bis in die 1990er-Jahre versuchte man scharf zwischen den „neurotischen“, durch psychische Konflikte ausgelösten Depressionen, und rein neurophysiologisch bedingten, den „endogenen“ Depressionen zu unterscheiden. Inzwischen weiß man, dass diese Trennung nicht der Wirklichkeit entspricht. Jede laufende Depression ist von intensiven neurophysiologischen Vorgängen begleitet, die sich bald verselbstständigen. Die Ursachen können allerdings sehr unterschiedlich gelagert sein. Hier reicht das Spektrum von Depressionen, die fast komplett durch innere oder äußere Konflikte ausgelöst wurden, bis hin zu weitestgehend neurophysiologisch ausgelösten Depressionen. Aber es besteht eben ein Kontinuum zwischen diesen beiden Polen. Die meisten Depressionen, mit denen wir es in der Praxis zu tun haben, enthalten Anteile von beiden Auslösern.
Folgende Hinweise deuten darauf hin, dass eine Depression nicht Ausdruck eines Konfliktes, sondern ganz vorwiegend
neurophysiologisch zu verstehen ist:
- Phasenhafter Verlauf: Wenn es in der Vorgeschichte schon mehrere gut abgrenzbare depressive Phasen gab, dann hätte man es mit einer rezidivierenden Depression zu tun. Vielleicht kam es auch schon zu manischen oder hypomanischen (weniger ausgeprägt manische) Phasen, dann lautet die Diagnose: bipolare Störung.
- Schweregrad: Schwere und schwerste Depressionen („major depression“) – wie oben beschrieben – sind nicht oder zumindest nie allein durch innere Konflikte bedingt.
- Fehlende Gründe: Hier kann oft die Familienanamnese helfen. Das Entstehen der Depression wird als „wie aus heiterem Himmel“ beschrieben.
- Familiäre Belastung: Auch schon bei Vorfahren und Verwandten gab es Depressionen.
- Morgentief: Am Morgen ist die Verstimmung am schlimmsten, gegen Abend hellt sich die Gemütslage spürbar auf.
Aufdeckende und konfliktbearbeitende Psychotherapie ist bei diesen Patienten nicht angezeigt. Sie brauchen vor allem eine baldige und gut überwachte medikamentöse Therapie. Psychotherapie hat hier stützenden Charakter. Es geht zum einen darum, die bestehenden negativen Gedanken und Überzeugungen (Kognitionen) immer wieder und freundlichbeharrlich im Dialog zu lockern. Hier hat sich Aaron Beck¹ um die Methodik verdient gemacht. Zum anderen hat die Psychotherapie hier die Aufgabe, den Genesungsprozess unter medikamentöser Therapie, die Wiederaufnahme von Beziehungen und das wiederaufkeimende Interesse an der Umgebung behutsam zu begleiten und den Patienten zu ermutigen.
Vorwiegendneurophysiologische Ursachen
Wenn bei der Depression neurophysiologische Ursachen vorwiegen, ist Schlafentzug bei ca. drei Viertel der Betroffenen wirksam und außerdem völlig nebenwirkungsfrei. Allerdings braucht es dazu eine therapeutische Umgebung, in der alle Beteiligten wissen, worauf es ankommt. Partieller Schlafentzug (Wecken um 1.00 bis 1.30 Uhr) wirkt ebenso gut wie vollständiger (der Patient schläft die ganze Nacht nicht). Entscheidend ist, dass dann bis zur nächsten Nachtruhe, die auch nicht eher als sonst beginnen sollte, absolut kein Nickerchen gestattet ist.
Das gelingt nur bei sehr sorgfältiger Vorinformation der Patienten, die nur dann zu dieser erst einmal anstrengenden Mitarbeit motiviert sind. Sie stellen aber meist erstaunt fest, dass es ihnen trotz der kurzen Nacht am nächsten Tag „irgendwie besser“ geht. Dieser Effekt, der nur jeweils für den Folgetag gilt, kann durch eine fachgerechte Schlafphasenverlagerung konserviert werden. Bei Vorliegen einer saisonalen Depression (Winterdepression) ist eine Lichttherapie jeweils ab Herbst hilfreich. Faustregel: 10.000 Lux täglich eine halbe Stunde lang, gleich morgens vor dem Frühstück.
Und bei rezidivierenden Depressionen sollte immer eine Phasenprophylaxe erfolgen. Heutzutage wird empfohlen, genau das Medikament, das in der letzten Phase geholfen hat, in unveränderter Dosierung weiter einzunehmen. Rezidive – mit all ihren negativen psychischen und sozialen Folgen – können so stark verringert werden.
Allgemein gilt: Spätestens bei jeder mittelschweren Depression ist eine medikamentöse Behandlung erforderlich. Bei jeder Depression, gleich welche Ursache sie hat, kommt es zu Verschiebungen der Neurotransmitterkonzentrationen im Gehirn. Substanzen wie Serotonin oder Dopamin fehlen inzwischen an entscheidender Stelle. Eine Depression erhält und verstärkt sich auf diese Weise nach kurzer Zeit selbst. Eine medikamentöse Therapie hat den Sinn, hier regulatorisch einzugreifen. Inte-ressanterweise konnte nicht nur eine wieder bessere Neurotransmission (Botenstoffübertragung zwischen Nervenzellen) unter Medikation nachgewiesen werden, sondern sogar ein Nachwachsen von Neuronen. Eine Depression entspricht gewissermaßen einer Selbstblockade in bestimmten Hirnbereichen, die Abbauprozesse in Gang setzt. Diese negative Entwicklung kann unter geeigneter Medikation wieder umgekehrt werden.
Ein frühes Eingreifen (medikamentös und psychotherapeutisch) beugt auch dem Aufbau von dysfunktionalen Bahnungen vor. Je länger und öfter Menschen depressiv waren, desto schneller sind sie es auch wieder. Es ist ein ähnliches Phänomen wie bei Schmerzen, wo es ebenfalls darauf ankommt, diese durch frühes Eingreifen nicht chronisch werden zu lassen („Daten-autobahn im Gehirn“). Deshalb ist frühe und intensive Hilfe bei Depressionen weit besser als vergleichbare Maßnahmen zu einem späteren Stadium.
Aggression gegen das eigene Selbst
Auch bei Patienten mit Depressionen, die vorwiegend durch innere Konflikte begründet sind, kann ein medikamentöser Schutz die Therapiefähigkeit deutlich steigern. Vor allem gilt es aber, den zentralen Beziehungskonflikt der Person aufzuspüren und sie beim Lösen der inneren Problematik zu unterstützen. Die Gründe für Depressionen können natürlich sehr verschieden sein. Es ist nicht sinnvoll, sie hier alle aufzuzählen. Doch es gibt ein Muster, auf das ich hier einhergehen möchte, denn es spielt bei depressiven Menschen in der einen oder anderen Form fast immer eine Rolle: Depressivität kann oft verstanden werden als Wendung von Aggression gegen das eigene Selbst. Bei näherem Kennenlernen Betroffener fällt oft auf, dass sie sich weder im szenischen Raum der Psychotherapie, noch – ihrer Erzählung nach – im sonstigen Leben ausreichend vertreten und für sich eingesetzt haben. Stattdessen erlauben sie anderen, ihre Grenzen zu verletzen und sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Schaut man in die biografische Geschichte, dann kristallisieren sich bei Depressiven oft zwei Konstellationen heraus:
Variante 1: Wut zu zeigen war hochgefährlich. Vielleicht hatte der Betreffende eine Mutter, die ihn innerlich ablehnte und zudem eine schlechte Impulskontrolle hatte: Bei Widerworten gab es unvermittelt Schläge und massive Wutausbrüche der Mutter. Oder er hatte einen Vater, der im alkoholisierten Zustand zu Gewalt neigte. In solchen Situationen verinnerlicht ein Mensch schnell, dass er unter keinen Umständen eigenen Ärger zeigen darf und sich gerade dann möglichst zurückhalten und zurückziehen muss, wenn andere erste Anzeichen von Ärger spüren lassen. Bei diesen Menschen ist allerdings im Kontakt oft eine unterschwellige, unterdrückte Aggression spürbar.
Variante 2: Das Leben war früh von gefährdeten Beziehungen geprägt. Vielleicht war die Mutter überfordert und häufig krank, vielleicht wurde das Kind an Großeltern oder in ein Heim abgegeben, vielleicht war es auch ein unerwünschter „Nachzügler“ in einer ohnehin kinderreichen Familie. Menschen mit solchen Erfahrungen versuchen oft ihr Leben lang, doch wenigstens ein wenig Liebe von anderen, natürlich besonders ihren primären Bezugspersonen, abzubekommen. Um das nicht zu gefährden, müssen sie immer eine „freundliche“ Oberfläche zeigen. Dieses Selbstbild, nämlich immer noch in kindlich-abhängiger Posi-tion zu sein, hat in der Regel kaum noch etwas mit der Realität zu tun. Für andere ist das leicht erkennbar, aber es entspricht immer noch der unreif-kindlichen Wahrnehmung des Betroffenen.
Außenstehenden erscheint es zum Beispiel fast absurd, wie eine erwachsene Tochter ihre weiterhin übergriffige und undankbare Mutter finanziell oder mit Koch- und Putzdiensten versorgt. Auf der Psychotherapiestation berichtet sie in der Gruppe immerhin in einer Weise davon, dass alle anderen in Wut über diese Mutter geraten. Sie selbst wehrt aber alle Anteilnahmen, Hinweise und Ratschläge ab, weint laut los und schluchzt, sie „könne nun einmal nicht anders“.
Menschen, die in der irrationalen Hoffnung leben, irgendwann doch noch einmal die Liebe zu bekommen, nach der sie sich sehnen, müssen peinlichst vermeiden, diejenigen zu kränken oder abzustoßen, von denen sie die fantasierte Erfüllung erwarten. Sie geraten in eine innere Zwickmühle. Denn natürlich frustriert sie jede weitere Enttäuschung und sie erzeugt Ärger. Ihr Unbewusstes muss aber unbedingt verhindern, dass dieser Ärger in die immer noch mit Sehnsüchten besetzte Beziehung rutscht. So gibt es nur einen Weg: die Wendung gegen das eigene Selbst. Die Betroffenen behalten den Ärger in sich, der dort sein destruktives Werk tut. Er „frisst sie von innen an“. Sie strafen sich selbst – und verlieren Lebensfreude und Energie.
Produktive Wut
Bei Menschen wie der Frau mit der übergriffigen Mutter ist auf direktem Wege in der Therapie nichts zu holen. Die Betreffenden sind nicht in der Lage, über das Erkennen ihrer Situation eine Entscheidung für eine angemessene Abgrenzung und Selbstbehauptung zu treffen. Viel zu stark sind die alten Muster eingespurt, viel zu hart ihr als „Gewissen“ erlebtes archaisches Über-Ich. Der Weg zu einer Heilung kann nur über die Beschäftigung mit der eigenen Biografie führen.
Dabei geht es darum, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was dem kleinen Mädchen, das die Patientin damals war, von ihrer Mutter angetan wurde. In diesem Fall: was sie damals an doch so dringend notwendiger Zuwendung und Liebe nicht bekommen hat. Hier ist der Punkt, der mit Recht beweint werden muss. Hier liegt der Schmerz, der damals – und heute im Nachempfinden – ganz real wehtut. Und hier steckt das Potenzial an angemessener und produktiver Wut, die die jetzige Erwachsene empfinden kann, wenn sie sich die Situation des kleinen Mädchens so plastisch wie möglich vergegenwärtigt.
Mit den beiden genannten Hauptgründen für depressive Entwicklungen sollte in der Therapie natürlich auch verschieden umgegangen werden. In der Psychotherapieabteilung der Klinik Hohe Mark würden wir uns meist für schematherapeutische Methodik entscheiden.
Für lebhafte Erinnerungen an Gewaltszenen in der Kindheit eignet sich sehr gut eine Imagination. Hier wird eine Szene von damals so real wie möglich wiederbelebt, unter Einbezug aller Sinne. Betroffene haben die Chance, indem sie dann als heutige Erwachsene in die Szene hineingehen, einmal „von außen“ mitzuerleben, was damals passierte und wie das auf einen beobachtenden Erwachsenen wirkt. Die Therapeutin geht mit in die Szene. Und wenn sie merkt, dass bei ihrem Patienten ein Gefühl der Empörung über solch einen Umgang mit dem damaligen Kind entstanden ist, dann ermutigt sie ihn, in die Szene hineinzugehen, die Täterin / den Täter zu entmachten und das Kind zu versorgen.
Moralische Missverständnisse aufklären
Wenn es dagegen vorwiegend um verbietende und strafende innere Stimmen wie in Variante 2 geht („Benimm dich! Du musst einen guten Eindruck machen! Wie konntest du nur so unfreundlich reagieren – jetzt ist Mama traurig!“), dann ist eine Konfrontation mit genau diesen Stimmen in einer Stühlearbeit sinnvoll. Letztlich müssen diese Stimmen, die immer auf die kindlichen Anteile von früher durchgreifen, von der Instanz des „Gesunden Erwachsenen“ endlich einmal eine Grenze erhalten und die Meinung gesagt bekommen.
Nur durch dieses Einsteigen in die Kindheitsgeschichte wird der „moralische Irrtum“ deutlich, der bisher das Leben der Patienten beherrscht hat. Manchen fällt es wie Schuppen von den Augen. Nicht die Mutter ist schutzbedürftig, muss geschont und verwöhnt werden. Es ist ganz anders. Das kleine Mädchen, das die Patientin selbst damals war, hat ihre Liebe, ihren erwachsenen Schutz und ihre aktive Verteidigung verdient! Das ist ihre Lebensaufgabe.
Wenn ein solcher „moralischer Irrtum“ in der Therapie besprochen wird, ist es oft hilfreich, wenn der Therapeut diese allzu bekannte moralisierende Sprache des Über-Ichs aufgreift – allerdings um eine gut begründete „Gegenmoral“ aufzustellen. Den Betroffenen wird die „Feigheit“ des bisherigen Lebenskonzeptes gedeutet. Anstatt sich um eines völlig unrealistischen Vorteils willen immer noch bei früheren Autoritäten „einzuschleimen“, haben sie die Aufgabe, endlich wie ein anständiger Erwachsener dem (inneren) Kind in Not zu Hilfe zu eilen.
Ein Therapeut muss natürlich erspüren, welche Art zu sprechen bei einem Patienten „ankommt“, ihn zum Mitschwingen bringt. Aber oft ist es ein hilfreicher Weg, an der richtigen Stelle dieses „moralische Missverständnis“ aufzuklären. Viele nehmen solche Formulierungen gern als Anker für die neue Ausrichtung mit in ihr Leben.
Trauer im Leerlauf
Nicht selten bringen depressive Menschen, die sich in Therapie begeben, von vornherein eine Erklärung für ihre Erkrankung mit. Ob es fortgesetzte Demütigungen durch einen schwierigen Chef waren, Überarbeitung, eine Außenbeziehung des Partners in der Vergangenheit, Streit mit der besten Freundin oder der Verlust eines bedeutsamen Menschen vor vielen Jahren. Die Depression erscheint so den Betroffenen und auf den ersten Blick auch den Zuhörern als Trauerreaktion, die bei solch frustrierenden Erlebnissen oder Kränkungen nur folgerichtig ist.
In Therapien entsteht dann aber oft das Gefühl, dass hier etwas nicht zusammenpasst. Entweder ist es die Frage: Warum gibt es so viele Jahre nach diesem Ereignis noch immer eine so heftige Trauer? Oder: Wie kann es sein, dass der Betroffene es so lange in der krankmachenden Situation ausgehalten hat? Oder: Wie konnte ein kleines, doch eher banales Ereignis eine so lang-anhaltende, heftige Trauerreaktion auslösen?
Sehr bald kommen wir in der Therapie auf diese Weise doch bei der speziellen Lebensgeschichte des Betroffenen an. In vielen Fällen geht es darum, dass der vermeintliche Auslöser, das geschilderte Ereignis in der jüngeren Vergangenheit, nur einen alten Konflikt, eine alte, viel größere Wunde wieder aufgerissen hat. Das Unbewusste hat sie aus der Wahrnehmung verbannt, weil sie einfach zu schmerzhaft ist. Diese Verdrängung funktio-niert immer noch. Dem Betroffenen ist nur die Verletzung im Hier und Jetzt bewusst. Vielleicht wundert er sich selbst, warum ihm das so viel ausmacht und das ganze Leben beeinflusst. Tiefenpsychologisch ausgedrückt: Der zugrunde liegende Konflikt wurde durch das neue Ereignis „reaktualisiert“.
Die „Trauer“, die ein Betroffener erlebt, ist aber leider keine konstruktive Trauerarbeit. Es ist eher eine Trauer im Leerlauf, ein unproduktives Hamsterrad, in dem er endlos treten kann, ohne weiterzukommen. Denn er trauert an der falschen Stelle – nicht dort, wo der eigentliche Schmerz liegt. In einer Therapie ist es somit die Aufgabe, mit dem Betroffenen gemeinsam den Ort seiner eigentlichen Kränkung, seines eigentlichen Schmerzes aufzusuchen. Die lange verdrängten Gefühle über die wirklich schwerwiegenden Entbehrungen oder Traumata der Kindheit müssen wieder ins Leben zurückdürfen. Heilung ist sonst unmöglich.
Das ist oft ein wirklich schwerer und schmerzhafter Prozess. Es kann sein, dass es in dieser Phase der Therapie den Patienten deutlich schlechter geht als bei Therapieaufnahme. Aber gleichzeitig spüren sie auch, dass es genau richtig ist, was jetzt passiert. Und sie fühlen sich auch gehalten von ihrem Therapeuten oder vom therapeutischen Team.
Wie sieht ein guter Umgang
mit Depressionen aus?
Zunächst ist zu unterscheiden: Wie schwer ist die Depression? Wie weit ist ein Mensch im täglichen Leben eingeschränkt? Gibt es Hinweise auf eine eher neurophysiologische Ursache?
- Wenn ein Mensch schwer depressiv ist, eventuell auch suizidgefährdet, sollte er auf jeden Fall fachlich-medizinische Hilfe bekommen. In schweren Fällen ist manchmal eine rasche Klinikeinweisung der einzige Weg, dem Betreffenden das Leben zu retten. Auch, wenn Betroffene oft Hilfe ablehnen.
- Auch bei mittelschweren Depressionen ist eine ärztlich-medizinische Hilfe anzuraten. Ein Antidepressivum kann das Leiden in so vielen Fällen erheblich lindern, dass es fahrlässig wäre, nicht darauf hinzuweisen und einen Weg zum Arzt/Psychiater oder einer Psychiatrischen Institutsambulanz einer Klinik zu bahnen.
- Begleitende stützende Gespräche können auch bei schwer depressiven Menschen ein wesentlicher Faktor sein, der sie in der Realität hält und der auch eine letzte Verzweiflung und Suizidalität verhindert. Aber wer es alleine damit versucht, lädt mehr Verantwortung auf sich, als er tragen kann.
- Bei Depressionen, wo ein alter Konflikt, ein altes Defizit, ein altes Trauma reaktualisiert wurde, muss der therapeutische Weg über die Kindheit führen. Nur, wenn die damalige Situation emotional wiederbelebt wurde, kann Trauerarbeit an der richtigen Stelle geleistet werden. Das ist im eigentlichen Sinne Aufgabe der Psychotherapie.
Auch Seelsorgende sollten über diesen Umweg Bescheid wissen und ihn nutzen. Bei depressiven Menschen lassen sich Sorgen, Zweifel an Gott und seiner Fürsorge, Ängste nicht auf direktem Wege und durch vernünftige Erklärungen beseitigen. Oft braucht es zuerst eine medikamentöse Ausbalancierung des Hirnstoffwechsels. Und dann braucht das Verstehen den Umweg über die Kindheit.
Dr. Martin Grabe, Psychiater und Psychotherapeut, ist der neue Direktor des Marburger Instituts für Religion und Psychotherapie der Ev. Hochschule Tabor und Mitherausgeber von P&S. Bis vor kurzem war er Ärztlicher Direktor der Klinik Hohe Mark in Oberursel.
Fußnoten:
1 Beck, A. (1999): Kognitive Therapie der Depression, Weinheim, Basel: Beltz.
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