Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2025_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Depression und Glaube
Was passiert, wenn spirituelle Überzeugung auf seelisches Leid trifft? Wo ist Gott in der Depression? Was macht das mit einem gläubigen Menschen, wenn er psychisch erkrankt? Inwieweit sollte die Spiritualität in der Behandlung berücksichtigt werden? Christian Schäfer, Chefarzt einer evangelischen Klinik, erzählt von seinen Erfahrungen und bezieht zu den wichtigsten Fragen pointiert Stellung.
Was für eine Vorgabe der P&S-Redaktion an mich! Als treuer Leser der P&S gestehe ich: Einen Artikel zu „Depression und Glaube“ hätte ich überblättert, denn ich bin es müde, Studien aus dem christlichen Bereich zu lesen, die unisono behaupten, dass der christliche Glaube helfe. Und dann wiederum von Artikeln zu hören, die berichten, dass Spiritualität gleich welcher Couleur (aber vor allem die christliche) oft zu tieferen und längeren depressiven Phasen führe, da diese Patienten noch unter ihrer erlebten Gottverlassenheit litten oder das System sie krank gemacht hätte.
Bei den Studien habe ich immer wieder den Eindruck, dass die Autoren nur ihre eigene Meinung bestätigt haben wollten. Entweder ist der Glaube an eine höhere Instanz salutogenetisch, also förderlich für die seelische Gesundheit – bis hin zu: „Ein Christ erkrankt nicht an einer Depression!“ Oder er vergiftet die Psyche. Im deutschsprachigen Raum finde ich zu dieser Thematik in den letzten Jahren wenig Veröffentlichungen, wenn dann noch im angloamerikanischen Raum. Es scheint hierzulande beinahe eine Furcht vor diesem Thema zu bestehen.1
Deshalb der Versuch einer anderen Herangehensweise für den spirituell geneigten wie auch den agnostischen Leser im Sinne von Frage und Antwort. Am Ende steht eine sicherlich auch subjektive Hilfestellung im Umgang mit gläubigen Patienten aus meiner praktischen Erfahrung als Leiter eines psychiatrischen Krankenhauses mit diakonischem Leitbild im Osten Deutschlands. Wenn nachfolgend der Bezug auf das Christentum genommen wird, dann rein aus pragmatischen Gründen. Jeder mag vor seinem eigenen Hintergrund prüfen, ob es nicht auf sein eigenes Glaubenssystem zutrifft, oder es für sich abändern.
Frage: Was ist Glaube/Religion?
Antwort: Es ist eine Metaregel.
Wenn eine Metaregel Bestand haben soll, dann gibt sie Antwort auf die Fragen nach dem jetzigen Sinn des Lebens, sie gibt Antwort auf die Frage nach Leid, Schuld, Krankheit und Ungerechtigkeit. Sie gibt Antwort auf die Frage der Endlichkeit und auf die immer wiederkehrenden offenen Fragen des Lebens. Die Metaregel sollte Generationen überdauern können. Dabei ist es unerheblich, ob sie die gesamte Menschheit einschließt oder alle ihre Mitglieder als gleich betrachtet. Immer wird es eine klare Grenzziehung von „Innen“ und „Außen“ geben. Auch manche Fußballvereine, politische Ideologien, Nationen und Psychotherapierichtungen kommen nahe an diese Definition heran.
Frage: Wie zeigt sich Glaube/Religion?
Antwort: Die großen Religionen/Metaregeln bieten Struktur durch wöchentliche Begegnungen in ihren Kultstätten.
Oft bieten sie innerhalb der Woche noch Gemeinschaft in kleineren Gruppen, das Jahr wird durch Feste strukturiert. Diese können landestypisch sein, aber auch weltweit gefeiert werden. Im besten Fall schützen sie vor Einsamkeit, sie vermitteln ein Zugehörigkeitsgefühl, Partnerschaften innerhalb der Gemeinschaft haben außer der erlebten Zuneigung ein gemeinsames Fundament. Sie zeichnen sich dabei durch mehr Resilienz aus, da eine gemeinsame Vision besteht, die in der Gemeinschaft verankert ist. Nicht selten gibt die Metaregel auch explizite Vorgaben wie ein Zusammenleben gestaltet werden sollte oder unter welcher Ethik der Nachwuchs aufwachsen sollte.
Frage: Was zeichnet insbesondere die Metaregel von religiösen Gemeinschaften aus?
Antwort: Oft orientieren sich religiöse Gemeinschaften an „heiligen“ Büchern oder Schriften.
Diese Schriften lassen unterschiedliche Interpretationen des Inhaltes zu und werden in den dazugehörigen Gemeinschaften manchmal liberal, dann wieder eng ausgelegt. Die Schriften verlangen normalerweise die Hinwendung an ein transzendentes Wesen, das mit Macht und Kraft ausgestattet ist. Üblicherweise hat die Transzendenz auch Macht über Gesundheit und Krankheit. Um Transzendenz zu erfahren, bedienen sich religiöse Gemeinschaften an Mittlern (Priester/Schamanen etc.) oder betonen, dass bei ausreichendem Glauben die Einzelnen selbst mit der Transzendenz Kontakt aufnehmen können. Die großen religiösen Gemeinschaften kennen außer der Hinwendung zur Transzendenz, die positiv konnotiert ist, auch einen transzendenten Gegenspieler, der dieser Gemeinschaft böse gesinnt ist (Teufel/Dämon/Dschinn).
Frage: Was bedeutet das für Gläubige, die unter einer Depression leiden?
Antwort: Bei einer Depression tritt eine Störung von Denken, Fühlen und Antrieb auf, ob gläubig oder nicht. Gläubige erleben diese Problematik allerdings auch als Störung ihrer Verbindung zu Gott.
Bei intrinsisch Glaubenden, also bei einer Spiritualität, die nicht nur auf äußerlichen Handlungen basiert, ist das Denken, Fühlen und Handeln immer mit dem Blick „nach oben“ zu Gott hin verbunden. In gesunden Zeiten herrscht sozusagen eine stabile Netzwerkverbindung vor. Wie in einer guten horizontalen Partnerschaft hängt das Befinden viel von der Beziehung zum vertikalen Partner ab. Gläubige erleben sich gestärkt, nicht allein, bekommen subjektiv erlebte Antworten auf ihre anstehenden Fragen. Brüche im Leben wie Konflikte, Arbeitsplatzverlust, somatische Erkrankungen werden als Plan eines allwissenden Gottes erlebt, der das Gute für die Betroffenen möchte. Dadurch können diese Brüche leichter ertragen und angenommen werden. Und vor allem: Glaubende (zumindest im christlichen Spektrum) können ihre Schuld, ihr Verschulden, ihre Unvollkommenheit an eine höhere Instanz abgeben und sind sich sicher, dass ihnen Gnade und Barmherzigkeit zuteil wird.
Wenn es nun zu einer Depression kommt, dann sind Denken, Fühlen und Antrieb gestört. Dies sind die Grundsymptome bei einem jeden Depressiven, gläubig oder nicht. Die Ausprägungen und Beschreibungen können variieren. Der gläubige Mensch erlebt die Symptomatik allerdings zusätzlich als Störung der Netzwerkverbindung zu seiner Transzendenz – im schlimmsten Falle als Gottverlassenheit, als Abwendung Gottes. Christinnen und Christen haben Gott als liebenden Vater erlebt, der sie als ein Kind aufgenommen hat, in der Depression sehen sie den grimmigen Vater, der mit seinem Finger drohend auf sie zeigt. Die zuvor erlebte Kindschaft ist nicht mehr vorhanden, Gläubige erleben sich von Gott ausgestoßen. In der Depression sehen sie sich selbst als schuldbeladen und sind der Überzeugung, dass Gott sie dafür anklagt und aufgrund der Schwere der Taten nicht vergeben wird. Die vertikale Verbindung wurde einseitig von oben (aber aus ihrer Sicht zurecht) gekündigt. Hinzu kommt wie bei einem Agnostiker das „normale“ depressive Erleben auf der horizontalen Ebene des Daseins: Rückzug aus sozialen Kontakten, Schuldvorwürfe, Selbstwertproblematik, Antriebslosigkeit, suizidale Gedanken, Verzweiflung. Wir kennen die Symptome.
Beide, sowohl der gläubige Mensch als auch der Agnostiker, haben keine Kraft mehr zu Gemeinschaftsaktivitäten. Einige spirituelle Gemeinschaften sehen Schuld oder Sünde als Auslöser der Erkrankung. Andere unterstützen aktiv die Depressiven und besuchen sie regelmäßig, waschen die Wäsche oder kochen für sie. So kann eine spirituelle Gemeinschaft einen an einer Depression erkrankten Menschen durch die ihr vorgegebenen Strukturen und auch Glaubenssätze („die sieben Werke der Barmherzigkeit“) tragen, aber auch die Depression verstärken. Teilweise arbeiten spirituelle Gemeinschaften eng mit Therapeuten zusammen. Ich habe es bei einer früheren Arbeitsstelle des öfteren erlebt, dass wir gut mit dem Imam der örtlichen Moschee kommunizieren konnten.
Frage: Was bedeutet dies für Therapeutinnen und Therapeuten, wenn sie depressive Menschen behandeln, die gläubig sind?
Antwort: Therapeuten sind aufgefordert, sich Wissen über die Inhalte und Werte der Religion ihrer Patientinnen und Patienten anzueignen und respektvoll zu erfragen, von spirituellen Interventionen sollten sie Abstand halten.
In manchen spirituellen Gemeinschaften hat die Psychotherapie keinen guten Ruf. Denn im schlimmsten Falle – so wird postuliert – könnten Therapeuten versuchen, ihren Patienten den Glauben auszutreiben. Positiv konnotiert zeigt dies die hohe Wertigkeit, die Gläubige ihrer Spiritualität zusprechen. Leider hat ihnen oft niemand vermittelt, dass zu einer guten Therapie auch eine weltanschauliche Zurückhaltung von Seiten der Therapierenden gehört. Als Therapeut sollte ich über den Glauben meiner Patientinnen und Patienten gute Kenntnisse haben. Mein Therapiezimmer ist aber keine Kapelle der Religion. Das könnte Patienten sonst verunsichern bis hin zur Sorge, der Therapeut wolle missionieren. Ich achte in meinem Krankenhaus sehr darauf, dass die Therapiezimmer eine gewisse Neutralität ausstrahlen.
Als ich meine Ausbildung als Psychiater begann, waren spirituelle Interventionen in der Behandlung von psychisch kranken Menschen obsolet. Der Therapeut / die Therapeutin möge sich auf die Evidenz der Wissenschaft berufen und sich an anerkannte medikamentöse Therapieverfahren und Psychotherapieverfahren halten. Aus meiner Sicht gilt das nach wie vor, aber heute, dreißig Jahre später, sind spirituelle Interventionen – vor allem aus fernöstlichen Religionen – in der stationären Behandlung von psychisch kranken Menschen gang und gäbe. Derzeit scheint beinahe jede Art von Spiritualität erlaubt zu sein, nur der christlichen Spiritualität hängt ein Makel an. Spirituelle Handlungen und geistliche Rituale haben in der Therapie nichts zu suchen. Dazu zählen Gebet, Räucherexerzitien, Klanggedöns, Mikrobiomfanatismus oder heilsversprechende Entspannungstechniken. Dankbar bin ich für die Stellungnahme der DGPPN von 2016, welche in einem Positionspapier ausdrücklich vor spirituellen Interventionen in der Therapie warnt.2 Therapeuten sollten sich weiter im Bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einer spirituellen Gemeinschaft sehr zurückhalten. Sie müssen vor allem Expertise bezüglich der Spiritualität der Patienten haben.
Ich halte mich auch dann zurück, wenn es in der Spiritualität zwischen mir und meinem Patienten ein Match gibt. Religiöse Rituale wie Gebet oder Ähnliches sollten meines Erachtens während der Therapie vermieden werden. Ich kann für meine Patienten auch außerhalb der Therapie beten, auch für die, die nicht glauben. Depressive religiöse Patienten haben oft eine sehr lange Suche hinter sich, bis sie in die Therapie kommen. Ich halte es für wichtig, sensibel nachzufragen, welche alternativen Wege zur Heilung (Gebet zur Befreiung, Wallfahrt, Hadsch etc.) bereits beschritten wurden. Ebenfalls sollten spirituell erfahrene Therapeutinnen und Therapeuten nicht dem (Erfolgs-)Druck erliegen, der möglicherweise durch den depressiv religiösen Patienten aufgebaut wird, denn viele von ihnen haben sehr lange Anfahrtswege aufgenommen, um bei einer Person in Behandlung zu sein, die sie für kompatibel in geistlichen Fragen halten.
Und zum Schluss noch drei allgemeingültige Thesen:
- Depression trifft jeden. Unsere Gene sind zusammen mit der Epigenetik und den Lebensumständen Auslöser von Depressionen. Sicher spielen viele weitere Faktoren eine Rolle, aber diese drei scheinen mir an erster Stelle zu sein. Egal, ob ich Vegetarierin, gläubiger Christ oder Manager bin, sie finden sich in unserer Klinik im selben Krankenzimmer. Unterschiedlich sind nur die Erklärungsmuster bezüglich der Ätiologie (Ursachen und Faktoren) der Depression. Die Depression betrifft die Lebensbereiche, in denen ich mich aufhalte, in denen ich lebe, die mir wertvoll sind.
- Eine Depression kann ich manchmal nicht verhindern, aber ich kann mich für diese „Notzeit“ vorbereiten. Für einen gläubigen Christen kann das bedeuten: In Zeiten ohne Depression lerne ich ermutigende Verse oder gleich einen ganzen Psalm aus der Bibel auswendig. Ich kenne Lieder, die meinen Glauben stärken. Ich bin offen gegenüber meiner Peergroup und berichte ihnen, was mir guttut, wenn ich depressiv bin.
- Als Therapeut kenne ich meine Grenzen. Ich bin kompetent in der Heilung einer Depression, das Finden des Seelenheils ist der Religion vorbehalten. Das ist nicht meine Aufgabe.
Dr. Christian Schäfer, FA für Psychiatrie und Psychotherapie, FA für Psychosomatik und Psychotherapie, ist Chefarzt der Evangelischen Lukas-Stiftung in Altenburg.
1 Weiterführende Aufsätze und eine sehr gute Auseinandersetzung mit dem Thema des Artikels findet sich in Utsch, M. et al: Psychotherapie und Spiritualität, 2. Auflage, Springer Verlag.
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