Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2024_4) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Von impulsiver Gewalt zu innerer Stärke
Die Kraft biblischer Gestalten
Makellos sind sie nicht, die Heldinnen und Helden der Bibel. Und doch zeigen sie in herausfordernden Situationen eine große innere Kraft. Was macht, biblisch betrachtet, stark?
Im Duo mit seiner Partnerin hat er es auf die Opernbühne geschafft, in Romane und Musik: Samson und Delilah sind legendär. Ein sagenhafter Volksheld ist dieser Simson, wie er auch heißt. Als einer der sogenannten „Richter“ hat er Israel zwanzig Jahre lang angeführt. Die Story bietet sich geradezu an von einem, der gar nicht zu bremsen ist vor lauter Kraft. Am Ende der Geschichte muss dann auch etwas schöngeredet werden, was dieses Raubein (sich) über die Zeit hin geleistet hat. Er ist von unglaublicher Körperkraft, die er reichlich gewalttätig zum Einsatz bringt (Richter 14–16). Heldenlegenden begeistern sich an diesem Kraftpaket, weil seine Aggression sich gegen Feinde richtet, die das Volk Israel bedrohen. Woher er seine Kräfte nimmt, bleibt sein Geheimnis, fast bis zum Ende. Keiner käme darauf, dass sie aus seinen nie geschnittenen Haaren resultieren. Seine Eltern hatten ihn Gott geweiht, und die langen Haare sind das Zeichen dafür. Das macht seine Kräfte aus. Im Blick auf Frauen aber ist er schwach, und Delila(h), seine letzte, umgarnt ihn, entlockt ihm das Geheimnis und gibt das Rätsel preis. Sofort wird der Starke schwach und ist der Willkür seiner Feinde preisgegeben. Nicht ohne sie durch ein letztes Aufbäumen mit in seinen Untergang zu reißen.
CHARISMATISCHER FÜHRER MIT SCHWERER ZUNGE
Mose, viel früher, wird als Einzelner von Gott beauftragt, ein ganzes Volk aus Ägypten zu führen. Die Sache hat es in sich, hatte eigentlich gut angefangen. Die Sippe des Viehhirten Jakob aus Palästina war vor Generationen vom Hunger ins Land getrieben worden. Trotz oder wegen der unguten Geschichte mit Josef, dem Zweitjüngsten von insgesamt zwölf Söhnen, konnten sie sich dort niederlassen (1. Mose 37–50). Sie hatten Erfolg und vermehrten sich, und irgendwann kippt die Willkommenskultur in Misstrauen und Ablehnung. Durch Zwangsarbeit sollen die Hebräer niedergehalten und ihre weitere Vermehrung gebremst werden. Gottes Auftrag für Mose lautet: Geh zum Pharao und fordere die freie Ausreise für alle (2. Mose 3,10). Pharaonen waren keine Verwaltungsbeamten, sondern gottgleiche Herrscher. Einem solchen gegenüberzutreten, sofern das überhaupt gelingt, erfordert Stärke in höchstem Maß, und die sieht Mose bei sich nicht. So erzählt es ein kleiner, immer wieder aufblitzender Seitenstrang der Geschichte über den späteren charismatischen Führer in die Freiheit. Schon sein Sprachvermögen erscheint ihm unzureichend. Gott weist ihm deshalb seinen Bruder Aaron zu, der seine Defizite auffangen soll. Der ist eloquent (4,15; 7,2), ein steter Begleiter in herausfordernden Situationen (Kap. 5-14) und ein kräftiger Beistand (17,8-13). In der kollektiven Erinnerung ist Moses Bedeutung weit größer als die seines Bruders. Doch der Segen, den auch wir noch am Ende vieler Gottesdienste sprechen (4. Mose 6,24-26), wird der „aaronitische“ genannt.
PROPHET MIT BURNOUT
Ein geheimnisvoller Prophet ist Elia (1. Könige 17-19). Im Konflikt zwischen dem Glauben an den Gott Israels und attraktiveren Fruchtbarkeitsspiritualitäten im Umfeld wird er fast zerrieben. Gott lässt sich nicht spotten (vgl. Galater 6,7) und verschließt den Anhängern eines Vitalitätsglaubens die Wolken. Im verdorrten Land versorgt Gott seinen Propheten und auch die legendäre Witwe von Sarepta/Zarpat und deren schon vom Tod ergriffenen Sohn (1. Könige 17). Elia erfährt den Gott Israels als den, der sich seinen Leugnern als die Stärke selbst erweist. Doch am Ende (18,40) toppt der Prophet auf blutige Weise, was doch schon klar ist. Dieser „Kraftbeweis“ tut Elia nicht gut und lässt ihn erschöpft zurück. Als noch keiner das Wort kennt, liegt er mit Burnout unter einem Wacholder. Und erfährt wieder Gottes Fürsorge. Ein Engel bringt ihm einen Krug mit Wasser und geröstetes Brot. Und eine neue Beauftragung: „Steh auf und iss, denn du hast noch einen weiten Weg vor dir!“ (1. Könige 19,5.7). Dieser Weg reicht bis in die Gegenwart des jüdischen Glaubens. Eine Ankündigung im Maleachibuch macht Elia zum Vorläufer des Messias. Bei der Sederfeier zum Auftakt des jährlichen Passahfestes steht dafür ein freigehaltener Stuhl: „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu ihren Vätern, auf dass ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage“ (Maleachi 3,23-24).
WEGBEREITER VON GROSSER INNERER STÄRKE
Jesus wird gefragt, ob er dieser wiedergekommene Elia sei (Markus 6,15; 8,28). Auf dem Berg der Verklärung (Matthäus 17,3-8) erscheinen ihm und seinen Jüngern Mose und Elia. Der Täufer Johannes gilt den frühen Christen als Erfüllung der Eliaerwartung (Matthäus 11,14; 17,10-13). Die Ausstrahlung des Täufers muss von großer innerer Stärke gewesen sein. Menschen aller Gruppen kamen, um seinen Ruf zu einer Lebenswende zu hören. Viele ließen sich von ihm taufen, auch Jesus selbst (Matthäus 3). Von Johannes ist bekannt, dass er eigene Jünger hatte, die sich dann teilweise zu Jesus orientierten (Johannes 1,35-40). Die Jesusnähe ist besonders durch die Verknüpfung der Geburtsgeschichten beider in Lukas 1 unterstrichen. Die unverblümte Kritik an den Verhältnissen Herrschender bringt Johannes in Haft und dann auf zynische Weise den Tod (Matthäus 4,12; 14,1-12). Noch lange Zeit ist seine Verkündigung wirksam (Apostelgeschichte 18,25; 19,3-4). In der christlichen Tradition gilt Johannes als „Vorläufer“ und „Bahnbereiter“ Jesu als des Messias (vgl. Jesaja 40,3). Er ging diesen Weg, ohne auszuweichen.
DAS SCHWERT DRINGT DURCH MARIAS SEELE
Von großer innerer Stärke war wohl Maria, die Mutter Jesu. Letztlich wissen wir über sie nur, was in Beziehung zu Jesu Weg steht. Die Geburt dieses Sohnes wird ihr durch einen Erzengel angekündigt. Maria kann nur fragen und sich in das Unfassbare fügen: „Mir geschehe, wie du gesagt hast“ (Lukas 1,38). Als ihre Antwort lesen wir das Magnificat, diesen wunderbaren neutestamentlichen Psalm. In ihm werden die wahren Kraftverhältnisse der Welt besungen: Gott „stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“ (1,52). Während der gesamten Geburtsgeschichte Jesu (Lukas 2) spricht Maria kein Wort. Im Gegenteil: Sie hört genau, was über ihr Kind gesagt wird und „behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen“ (2,19). Die Mutter dieses Sohnes zu sein, erscheint als herausfordernd. Als der Zwölfjährige nach einem Tempelbesuch sich einfach entfernt und unter die Toralehrer begibt, bricht es hernach aus seiner Mutter heraus: „Mein Sohn, warum hast du uns das angetan?“ (2,48). Auf einer Hochzeit, wo Jesus mit seinen Jüngern und auch seiner Mutter zu Gast ist, erlebt Maria für einen gutgemeinten Hinweis eine herbe Abfuhr: „Was geht’s dich an, Frau, was ich tue?“ (Johannes 2,4). Als Maria sich zusammen mit ihren anderen Söhnen besorgt nach Jesus umschaut, fallen ablehnende Sätze: „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? (…) Wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,48-50). Es ist so, wie es ihr der greise Simeon schon vierzig Tage nach der Geburt segnend zuspricht, als Jesus Gott im Tempel geweiht wird: „Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und Aufstehen für viele in Israel und zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen (…)“ (Lukas 2,34-35). Johannes berichtet, Maria sei zuletzt unter Jesu Kreuz gestanden und Jesus habe sie seinem Lieblingsjünger anvertraut (Johannes 19,25-27). Lukas nennt sie und Jesu Brüder im Kreis der ersten christlichen Gemeinde in Jerusalem (Apostelgeschichte 1,14).
DER VORLAUTE WORTFÜHRER WEINT
Simon, Fischer von Beruf, mangelt es nicht an Selbstbewusstsein. Jesus gibt ihm den Namen Petrus, Fels; sagt sogar, „auf diesen Fels will ich meine Gemeinde bauen“. Kräftig sofort dabei sein, das ist die Stärke Simons. Wenn ein Fischnetz gefüllt ist, gilt es, nicht zu zögern, sondern zuzupacken. Als Jesus seinen Jüngern eröffnet, was er auf sich zukommen sieht, Ablehnung, Leiden und Tod, geht Petrus dazwischen „und fing an, ihm zu wehren“. Er hat viel Kraft, aber ist es innere Stärke? Jesus jedenfalls weist seinen Jünger harsch zurück: „Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (Markus 8,32-33). Und als Jesus kurz vor seiner Gefangennahme davon spricht, seine Jünger würden sich irritiert von ihm abwenden, widerspricht Petrus: „Und wenn sie alle Ärgernis nehmen, so doch ich nicht! (…) Auch wenn ich mit dir sterben müsste, werde ich dich nicht verleugnen! Das gleiche sagten sie alle“ und schlossen sich dem lauten Wortführer an (14,27-31). Doch es ist ein momentanes Aufbäumen, nicht Stärke, die sich bewährt. Alle sind wie weggeblasen, als es wirklich brenzlig wird, und Petrus, der Fels, merkt es, als am Ende der letzten Nacht Jesu der Hahn kräht. „Und er fing an zu weinen“ (14,72). Vielleicht beginnt mit dieser Bemerkung die Veränderung von impulsiver Kraft zu innerer Stärke. Nach seiner Auferstehung hat Jesus einen neuen Weg für Petrus. Er braucht ihn als felsenfestes Fundament für seine künftige Gemeinde. Nach dem Markusevangelium sind es Frauen, denen als ersten die Auferstehungsbotschaft gesagt wird und der Auftrag: „Sagt seinen Jüngern und Petrus“, dass Jesus einen neuen Weg mit ihnen gehen wird (16,7). Petrus wird in aller Kürze extra genannt. Am Ende des Johannesevangeliums wird er ausdrücklich neu berufen, „die Schafe“ Jesu, die Gemeinde zu leiten und das Martyrium Jesu tatsächlich zu teilen (Johannes 21,15-19). Diesen Weg ist Petrus dann wohl auch gegangen, vermutlich in Rom. Die kirchliche Tradition ehrt ihn für diese Frucht innerer Stärke.
HÄFTLING VOLLER ZUVERSICHT
Auch der Weg des Paulus führt am Ende nach Rom (Apostelgeschichte 28,11-31). Er ist dem irdischen Jesus nicht selbst begegnet. Als Schüler des jüdischen Rabbis Gamaliel wurde er, im hellenistischen Judentum erzogen, selbst zum Gesetzeslehrer. Nach dem Bericht der Apostelgeschichte (8,3; 9,1-2) war er hoch aktiv, die junge christliche Bewegung zu verfolgen. Aus dieser gefestigten Sicht der Dinge warf ihn eine tiefgreifende Christusbegegnung, die zur Lebenswende wurde (9,3-6). Im Bewusstsein seiner direkten Beauftragung durch den Auferstandenen (1. Korinther 15,8-10) hat er eine große und konfliktbereite Stärke gewonnen. Durch seine Briefe an Gemeinden, die im Neuen Testament zahlreich vorliegen, wirkt dieser Apostel theologisch prägend bis in die Gegenwart. Unermüdlich ist er unterwegs, um neue christliche Gemeinden im kleinasiatischen Raum zu gründen, sie anzuleiten und zu begleiten. Zeiten der Haft und der Misshandlung bringen ihn von seiner Zuversicht auf die Gegenwart des erhöhten Herrn nicht ab. Sie ermöglicht es ihm, auch Schweres durchzustehen: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus“ (Philipper 4,13). Die Zusage Christi trägt ihn: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9). Oft von seinen Kritikern als schwach wahrgenommen, erfährt er, gerade dann stark zu sein, wenn er nach außen hin schwach erscheint (12,10). Innere Stärke korrespondiert wohl mit kreatürlichen, vitalen, intellektuellen und sozialen Voraussetzungen. Sie spielen eine wichtige Rolle, sie können manches erleichtern oder erschweren, sind aber nicht die letztgültige Bedingung für das, was innere Stärke ausmacht. Denn sie hat entgegen gängiger Einschätzung ihre entscheidenden Ressourcen gerade nicht in unseren Kompetenzen. Dort, wo ein Mensch die Fraglichkeit und Fragilität seiner eigenen Kräfte erfährt, scheint sich eine Öffnung anzubahnen für eine Stärke, die uns widerfährt; die ihre Quelle in Gott hat. Der Vaterunserschluss ist ein Bekenntnis dazu: „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit“.
Prof. Dr. Christian Eyselein, Pfarrer i. R. der Evang.- Luth. Kirche in Bayern, war in Neuendettelsau Studienleiter am Pastoralkolleg und an der Augustana- Hochschule Leiter der Pfarrverwalterinnen- und Pfarrverwalterausbildung. Weiterhin verantwortet er dort das Institut für evangelische Aszetik.