Dieser Artikel stammt aus P&S (Ausgabe 2021_3) – dem Magazin für Psychotherapie und Seelsorge. Viermal im Jahr widmet sich P&S einem neuen Themenschwerpunkt.
Was heißt Bekehrung?
Religionswissenschaftliche und interkulturelle Beobachtungen
von Henning Wrogemann
Bekehrung. Das Wort klingt altbacken. Genauer: Es klang altbacken – bis zum Herbst 2015. Als Flüchtlinge aus muslimischen Ländern sich geradezu scharenweise in christlichen Gemeinden taufen ließen, tauchte das Wort aus der Versenkung auf. Jetzt muss und kann es neu betrachtet und verstanden werden.
Das Thema Bekehrung hat in den Medien für lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Wer in einer pluralistischen Gesellschaft als tolerant gelten will, der muss, so scheint es, ein eher schwieriges Verhältnis zu diesem Phänomen haben. Der Grund liegt vermutlich im Stereotyp von Bekehrung als Ergebnis fremdverursachter Beeinflussung. Der Verdacht lautet, dass mit Menschen, die sich zu einer bestimmten Glaubenspraxis hin bekehren, etwas nicht stimmen könne, da ja eine gereifte Identität eine radikale Veränderung gar nicht nötig habe. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, Versuchen von Menschen, andere für eine bestimmte Glaubenspraxis gewinnen zu wollen, zu unterstellen, sie würden diesen eine bis dato fremde Botschaft „überstülpen“ wollen. Am besten wäre es, so die Hintergrundannahme, wenn es Bekehrungen erst gar nicht gäbe.
Allerdings gewann das Thema Bekehrung seit der sogenannten Flüchtlingskrise des Jahres 2015 an medialer Aufmerksamkeit. Immer wieder tauchten Berichte in Presse, Rundfunk, Fernsehen und Internet auf, dass eine große Anzahl von Geflüchteten, die aus der muslimischen Religion stammen, den Wunsch hegte, den christlichen Glauben anzunehmen und offiziell die Religionszugehörigkeit zu wechseln. Über die Jahre haben mehrere Tausend Menschen diesen Weg beschritten. Umgekehrt machten solche Menschen aus europäischen Ländern Schlagzeilen, die zum Islam konvertierten. Manche zogen in die Kriegsgebiete des Nahen Ostens, um für den sogenannten Islamischen Staat zu kämpfen. Wiederum anders liegen die Dinge bei Zwangsbekehrungen, zuletzt etwa von 200 verschleppten Mädchen durch die islamistische Terrororganisation Boko Haram.
DEUTUNGSVERSUCHE
Wie aber sind diese Phänomene zu deuten? Was wäre aus religionswissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen und aus interkultureller Perspektive?
Innerhalb der Religionswissenschaft ist es insbesondere die Religionssoziologie, die sich mit dem Thema Bekehrung beschäftigt. Dabei wird das Phänomen zunächst einmal definiert, um es soziologisch abgrenzen und quantitativ erfassen zu können. Eine gängige Definition umfasst folgende Charakteristika: Es geht erstens um ein relativ plötzliches Ereignis religiös-weltanschaulicher Neuorientierung, das zweitens ein starkes inneres Erleben („Bekehrungserlebnis“) beinhaltet sowie drittens einen radikalen Wandel bedeutet, der sich viertens in einem sozialen Bruch, nämlich der Abwendung von einer bisherigen und der Zuwendung zu einer neuen sozialen Gruppe (der neuen religiösen Gemeinschaft) ausdrückt sowie fünftens eine intensive Praktizierung der neuen religiösen Orientierung bedeutet.
Insbesondere die Faktoren des inneren Erlebens, des sozialen Bruchs sowie der intensiven Praktizierung der neuen Religion lassen sich durch quantitative soziologische Untersuchungen gut erheben. Allerdings stellt sich aus Sicht der vergleichenden Religionswissenschaft die Frage, ob diese Kriterien nicht zu sehr an christlich-protestantischen Mustern orientiert sind. Weiter ist von Bedeutung, in welcher Sprache von einer Bekehrung die Rede ist. Die Analyse von Konversionserzählungen spielt hier
eine entscheidende Rolle: Jemand, der eine religiöse Neuorientierung vollzieht, beschreibt diese nicht nur mit seinen eigenen Worten, sondern oft mit den sprachlichen Mitteln derjenigen religiösen Gruppe, der sich zuzuwenden er im Begriff ist. In der betreffenden religiösen Gruppe ist bekannt, wie eine „richtige“ Bekehrung bzw. Konversion auszusehen hat. Diese Vorstellungen nimmt der Konvertierende intuitiv auf und beschreibt seine Bekehrung in den typischen sprachlichen Mustern der Zielgruppe.
BEKEHRUNG ALS PROZESS, PROTEST ODER BEKENNTNIS
Damit stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Konversion im Sinne eines Religionswechsels immer mit einem intensiven inneren Erleben verbunden sein muss. Protestantisch ist dies oft der Fall, es ist aber nicht zwingend. Das Beispiel der Zeugen Jehovas und ihrer Wachturmgesellschaft etwa zeigt ein anderes Verständnis von Konversion. Da sich die Wachturmgesellschaft als sichtbare Organisation Gottes versteht, folgt daraus, dass Offenbarung im Medium der Organisation geschieht, nicht plötzlich, sondern graduell, nicht emotional, sondern rein rational, nicht als göttliches Widerfahrnis, sondern als Anleitung durch die Organisation, nicht als Bruch, sondern als kontinuierlicher Prozess. Dies zeigt: Es handelt sich hier um einen Typ von Konversion, der ein deutlich anderes Profil aufweist als das protestantische Pedant.
Die religionswissenschaftlichen Beispiele zeigen, dass es das Phänomen Bekehrung/Konversion quasi nicht „an sich“, sondern dass es durchaus verschiedene Verständnisse des Phänomens gibt. Weitere Aspekte kommen hinzu, wenn man Konversion und Religionswechsel in interkultureller Perspektive bedenkt. Im Kontext des indischen Kastensystems etwa kommt es vor, das ganze Dörfer von Volksgruppen einer niederen Kaste vom Hinduismus zu einer anderen Religion (besonders Buddhismus, Christentum oder Islam) konvertieren. Hier bedeutet der Religionswechsel einen politischen Protest, da man durch die Konversion versucht, den Restriktionen des Kastensystems zu entkommen. Konversion ist hier demnach kein individuelles, sondern ein kollektives Geschehen, es geht nicht um ein inneres Erleben, sondern um eine äußere Zugehörigkeit, es geht weniger um neuen „Sinn“ als vielmehr um einen anderen Rechtsstatus (denn staatlich wirkt sich Religions- und Kastenzugehörigkeit z. B. im Blick auf den Zugang zu quotierten Studien- oder Arbeitsplätzen aus) und eine andere Praxis. Wenn man Konversion als einen inneren Prozess definiert, so wird an diesem Beispiel deutlich, dass Religionswechsel nicht immer eine (innere) Bekehrung bedeuten muss.
Umgekehrt kann es aber auch sein, dass es zu einer inneren Bekehrung kommt, aber kein äußerlich sichtbarer Religionswechsel vollzogen wird. Dies ist oft der Fall, wenn Muslime in einem mehrheitlich muslimischen Land Christen werden. Bis in die Gegenwart wird das Verlassen des Islam in praktisch allen mehrheitlich muslimischen Ländern sanktioniert, etwa mit dem Aberkennen von Erbansprüchen, der Zwangsscheidung vom noch muslimischen weiblichen Ehepartner, dem Androhen von Gewalt oder der Inhaftierung. Auch Tötungsdelikte
kommen immer wieder vor. In dieser Situation ziehen es viele Menschen vor, ihr inneres Christsein nach außen hin zu verheimlichen, um den Sanktionen zu entgehen. Es kann daher nicht verwundern, wenn Flüchtlinge aus mehrheitlich muslimischen Ländern, in westlichen Staaten angekommen, nun die Gelegenheit ergreifen, um öffentlich zum christlichen Glauben zu konvertieren. Das bedeutet das Empfangen der Taufe und die Mitgliedschaft in einer christlichen Gemeinschaft oder Kirche.
BEKEHRUNG IN DEN GROSSKIRCHEN
War bisher vom Thema Bekehrung bzw. Konversion in religionswissenschaftlicher und interkultureller Perspektive die Rede, so wäre weiter zu fragen, wie es mit Bekehrung im Zusammenhang der großen christlichen Kirchen in Deutschland steht. Hier wäre zunächst darauf hinzuweisen, dass es sich bei den evangelischen Landeskirchen und der Römisch-katholischen Kirche um Großorganisationen handelt, die nach innen wie nach außen ein kommunikatives Klima pflegen, welches eine große Offenheit signalisiert, da anders die Vielzahl unterschiedlicher Orientierungen ihrer Mitglieder nicht integrierbar wäre. Diese relative Offenheit bedeutet zweifellos eine integrative Stärke. Da allerdings Bekehrung oft mit dem Anspruch einer starken religiösen Verbindlichkeit einhergeht, ist zu erwarten, dass es sich bei dem Phänomen Bekehrung innerhalb solcher Großorganisationen nicht um ein Massenphänomen handeln kann. Kommt daher innerhalb der Großkirchen aufgrund ihrer soziologischen Beschaffenheit das Phänomen Bekehrung gar nicht vor?
Bei genauerer Betrachtung kann man zwischen Konversion im anfänglich beschriebenen, soziologischen Sinn und graduellen konversiven Prozessen unterscheiden. Damit ist gemeint, dass sich die religiös-weltanschauliche Identität eines Menschen in bestimmten Phasen seines Lebens graduell ändern kann, was bis hin zu einem Religionswechsel oder einer sehr bewussten religiös-aktivistischen Identität führen mag. Wenn sich beispielsweise junge Eltern im Blick auf ihr Kind die Frage stellen, welche Werte sie dem Kind mitgeben wollen, kann es zu konversiven Prozessen etwa durch Teilnahme an der Eltern-Kind-Arbeit von Kirchengemeinden kommen. Als konversiver Prozess lässt sich hier die Intensivierung einer bisher eher formalen Zugehörigkeit zur Kirche verstehen, etwa das nun neu oder wieder neu praktizierte Abendgebet oder Tischgebet mit dem Kind betreffend oder die Mitarbeit in der Kinder- und Jugendarbeit während der Konfirmandenzeit des Kindes.
In Krisensituationen sind konversive Prozesse im Sinne der Neuorientierung zu beobachten, die nicht die Intensivierung eines eher latent schon Vorhandenen bedeutet, sondern die bewusste Abkehr von Bisherigem und die bewusste Annahme des christlichen Glaubens. Dabei kann die Neuorientierung eine Komplexitätsreduktion und damit eine psychologische Entlastung bedeuten, da sich der / die Glaubende zunächst ganz auf die neue religiöse Weltsicht und Praxis konzentriert. Dieses Muster entspricht am ehesten der religionssoziologischen Definition von Konversion.
BEKEHRUNG ALS VERTIEFUNG
Ein drittes Muster wären konversive Prozesse im Sinne einer Vertiefung spiritueller Erfahrung, wie sie in der esoterischen Szene oder in mystisch ausgerichteter religiöser Praxis zu beobachten ist. Damit würde nicht der Anschluss an bisher eher latent gebliebene religiöse Zugehörigkeit im Blick sein (Intensivierung), auch nicht die religiöse Neuausrichtung in ihrer Entlastungsfunktion (Neuorientierung), sondern eine im Blick auf religiöse Wir-Gruppen eher unspezifische Einkehr in mystischer Diktion.
Psychologisch betrachtet wirft jede Form eines konversiven Prozesses bestimmte Fragen auf. Für die Intensivierung ist es unter anderem die Frage nach der Dauerhaftigkeit dieses Prozesses (wie wäre dieser abgrenzbar?), für die Neuorientierung die Frage nach dem Verlauf der Phasen von anfänglicher Komplexitätsreduktion, nachfolgender Vergewisserung der neuen religiösen Identität sowie daraus folgend der Möglichkeit einer erneuten Öffnung im Blick auf die Wahrnehmung und Wertschätzung anderer religiöser Orientierungen. Für die Vertiefung wäre die Frage nach der religiösen Sozialisation zu stellen und das Problem zu reflektieren, inwiefern von Konversion überhaupt gesprochen werden kann, wenn es keine soziologisch abgrenzbare Wir-Formation gibt, aus der heraus oder in die hinein eine Konversion stattfindet.
BEKEHRUNG IN ZEITEN HYBRIDER RELIGIÖSER PRAXIS
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass für die Rede von Bekehrung eine ganze Reihe von Aspekten zu berücksichtigen ist, um der Komplexität des Themas auch nur einigermaßen gerecht zu werden. Erkenntnisse aus der Forschung von Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie sind hier unabdingbar, um eigene Stereotypen zu hinterfragen, wie sie durch die als selbstverständlich vorausgesetzten Rahmenbedingungen der bundesdeutschen Gesellschaft nur allzu schnell eingetragen werden. So gilt in interkultureller Perspektive zunächst grundsätzlich, dass Bekehrungen in anderen Ländern und Kontexten viel häufiger vorkommen und entsprechend als normaler betrachtet werden als in der säkular geprägten Öffentlichkeit Deutschlands. Zweitens ist darauf zu verweisen, dass es ganz verschiedene Formen von Bekehrung / Konversion gibt, sowohl religionsvergleichend als auch interkulturell. Drittens ist zu bedenken, dass es nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Konversionen gibt, da Konversion viertens in vielen Ländern und kulturell-religiösen Kontexten keineswegs allein eine individuelle Privatsache ist, sondern weitreichende rechtliche und soziale Konsequenzen hat. Fünftens bleibt die Frage virulent, was genau als Konversion zu betrachten ist, wenn gilt, dass ein Religionswechsel durchaus nicht mit einer innerlichen und damit auch psychologischen Neuorientierung verbunden sein muss, und umgekehrt, dass eine radikale innerlich-religiöse Neuorientierung nicht zwingend zu einer öffentlichen und damit auch rechtlichen Konversion führen muss. Sechstens ist
mit Blick auf eine religiöse Szene populärer und fluider Religiosität zu fragen, inwiefern in solchen Zusammenhängen, in denen es keine auch nur einigermaßen abgrenzbaren Wir-Gruppen als Referenzgröße gibt, von Konversion gesprochen werden kann.
Methodisch wäre darüber hinaus zu bedenken, ob nicht bestimmte theoretische Zugänge es deutlich erschweren, den Konversionsbegri überhaupt zu verwenden. Wo die These vertreten wird, dass alle religiöse Praxis ohnehin hybrid ist, wo dem Thema multiple religiöser Identitäten nachgegangen wird, ist es eine Frage des theoretischen Zugri s und der Begri ichkeit, so etwas wie eine Bekehrung/ Konversion oder einen Religionswechsel anzunehmen.
BEKEHRUNG ZUR RELIGIONSLOSIGKEIT?
Bisher nicht berücksichtigt wurde die Frage, wie über die Veränderung religiöser Identität zu denken ist, die von Religion oder Religiosität in Richtung auf eine nichtreligiöse Welt- und Lebensdeutung verläu . Würde man auch im Blick auf den sich vergrößernden Anteil von Menschen, die sich nicht mehr als religiös verstehen, den Begri der Konversion anwenden können? Oder würde der Begri damit nicht so flächig gebraucht, dass er wegen seiner Unschärfe untauglich wird? Jedenfalls sollte das Thema Religionslosigkeit nicht völlig ausgeblendet werden, was die Frage beinhaltet, welchen Religionsbegri man unterlegt, wenn man etwas oder jemanden als religionslos definiert. Nach manchen religionswissenscha lichen Theorien, die sich auf den Begri der Transzendenz stützen, gehört Religion in wie subtiler Form auch immer, konstitutiv zum Menschsein, weshalb es religionslose Menschen gar nicht geben kann. Dies zeigt einmal mehr, wie wichtig die Arbeit am Begriff ist.
Prof. Dr. Henning Wrogemann, geboren 1964, ist Inhaber des Lehrstuhls für Religionswissenscha und Interkulturelle Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Er ist außerdem Leiter des Instituts für Interkulturelle Theologie und Interreligiöse Studien, www.iitis.de.